Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Änderungen des Reichstagswahlvechts

as allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht ist eine der wenigen
Staatseinrichtungen, über die Fürst Bismarck im Laufe der Zeit
zu einer grundsätzlich andern Auffassung gelangt ist, als er früher
hatte. Als er am 21, April 1849 in der Zweiten Kammer die
Frankfurter Reichsverfassung kritisierte, erklärte er "die direkten
Wahlen mit allgemeinem Stimmrecht" für eins der drei Grundübel, woran sie
leide; die beiden andern waren, nebenbei erwähnt, das Prinzip der Volks-
sonvcränitkt und die jährliche Bewilligung des Budgets. In seinen Gedanken
und Erinnerungen dagegen heißt es Band II, Seite 58: "Außerdem halte ich
noch heute das allgemeine Wahlrecht nicht bloß theoretisch, sondern auch prak¬
tisch für ein berechtigtes Prinzip, sobald mir die Heimlichkeit beseitigt wird. .. ."
Der Zusammenhang ergiebt, daß nicht etwa ein allgemeines Wahlrecht mit
ungleichem Anrecht und mit der Zwischenstufe von Wahlmänuern gemeint ist;
Fürst Bismarck hatte das "bestehende," das Reichstagswahlrccht im Auge.

Wann sich diese innere Wandlung vollzogen hat, wird wohl schwer zu
bestimmen sein. Keinesfalls war sie schon 1863 eingetreten, als Fürst Bismarck
zum erstenmal, gegen den Frankfurter Fürstentag, das allgemeine Wahlrecht
ausspielte, und ebensowenig 1866, als er unmittelbar vor der Sprengung des
Bundestags in seiner Zirkulardepesche vom 10. Juni "die damals stärkste der
freiheitlichen Künste in die Pfanne warf." Ju beiden Fällen diente die demo¬
kratische Programmnnmmer den Zwecken der auswärtigen Politik, als Kampf¬
mittel, im zweiten insbesondre, "um das monarchische Ausland abzuschrecken
von Versuchen, die Finger in unsre nationale omsIöUs zustecken." Da konnte
von Bedenken keine Rede sein "im Hinblick auf die Notwendigkeit, im Kampfe
gegen eine Übermacht des Auslandes im äußersten Notfall auch zu revolutio¬
nären Mitteln greifen zu können." Und auch 1867, als das soeben als Re-
vvlutionsmittel benutzte Wahlrecht der Demokratie in den Entwurf zur Ver¬
fassung des Norddeutschen Bundes aufgenommen wurde, hatte Fürst Bismarck
sicher noch prinzipielle Bedenken, sie mußten jedoch abermals zurücktreten.


GrcnzboK'n II 1901 si?


Änderungen des Reichstagswahlvechts

as allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht ist eine der wenigen
Staatseinrichtungen, über die Fürst Bismarck im Laufe der Zeit
zu einer grundsätzlich andern Auffassung gelangt ist, als er früher
hatte. Als er am 21, April 1849 in der Zweiten Kammer die
Frankfurter Reichsverfassung kritisierte, erklärte er „die direkten
Wahlen mit allgemeinem Stimmrecht" für eins der drei Grundübel, woran sie
leide; die beiden andern waren, nebenbei erwähnt, das Prinzip der Volks-
sonvcränitkt und die jährliche Bewilligung des Budgets. In seinen Gedanken
und Erinnerungen dagegen heißt es Band II, Seite 58: „Außerdem halte ich
noch heute das allgemeine Wahlrecht nicht bloß theoretisch, sondern auch prak¬
tisch für ein berechtigtes Prinzip, sobald mir die Heimlichkeit beseitigt wird. .. ."
Der Zusammenhang ergiebt, daß nicht etwa ein allgemeines Wahlrecht mit
ungleichem Anrecht und mit der Zwischenstufe von Wahlmänuern gemeint ist;
Fürst Bismarck hatte das „bestehende," das Reichstagswahlrccht im Auge.

Wann sich diese innere Wandlung vollzogen hat, wird wohl schwer zu
bestimmen sein. Keinesfalls war sie schon 1863 eingetreten, als Fürst Bismarck
zum erstenmal, gegen den Frankfurter Fürstentag, das allgemeine Wahlrecht
ausspielte, und ebensowenig 1866, als er unmittelbar vor der Sprengung des
Bundestags in seiner Zirkulardepesche vom 10. Juni „die damals stärkste der
freiheitlichen Künste in die Pfanne warf." Ju beiden Fällen diente die demo¬
kratische Programmnnmmer den Zwecken der auswärtigen Politik, als Kampf¬
mittel, im zweiten insbesondre, „um das monarchische Ausland abzuschrecken
von Versuchen, die Finger in unsre nationale omsIöUs zustecken." Da konnte
von Bedenken keine Rede sein „im Hinblick auf die Notwendigkeit, im Kampfe
gegen eine Übermacht des Auslandes im äußersten Notfall auch zu revolutio¬
nären Mitteln greifen zu können." Und auch 1867, als das soeben als Re-
vvlutionsmittel benutzte Wahlrecht der Demokratie in den Entwurf zur Ver¬
fassung des Norddeutschen Bundes aufgenommen wurde, hatte Fürst Bismarck
sicher noch prinzipielle Bedenken, sie mußten jedoch abermals zurücktreten.


GrcnzboK'n II 1901 si?
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0537" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/235067"/>
            <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341873_234529/figures/grenzboten_341873_234529_235067_000.jpg"/><lb/>
          </div>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Änderungen des Reichstagswahlvechts</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1616"> as allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht ist eine der wenigen<lb/>
Staatseinrichtungen, über die Fürst Bismarck im Laufe der Zeit<lb/>
zu einer grundsätzlich andern Auffassung gelangt ist, als er früher<lb/>
hatte. Als er am 21, April 1849 in der Zweiten Kammer die<lb/>
Frankfurter Reichsverfassung kritisierte, erklärte er &#x201E;die direkten<lb/>
Wahlen mit allgemeinem Stimmrecht" für eins der drei Grundübel, woran sie<lb/>
leide; die beiden andern waren, nebenbei erwähnt, das Prinzip der Volks-<lb/>
sonvcränitkt und die jährliche Bewilligung des Budgets. In seinen Gedanken<lb/>
und Erinnerungen dagegen heißt es Band II, Seite 58: &#x201E;Außerdem halte ich<lb/>
noch heute das allgemeine Wahlrecht nicht bloß theoretisch, sondern auch prak¬<lb/>
tisch für ein berechtigtes Prinzip, sobald mir die Heimlichkeit beseitigt wird. .. ."<lb/>
Der Zusammenhang ergiebt, daß nicht etwa ein allgemeines Wahlrecht mit<lb/>
ungleichem Anrecht und mit der Zwischenstufe von Wahlmänuern gemeint ist;<lb/>
Fürst Bismarck hatte das &#x201E;bestehende," das Reichstagswahlrccht im Auge.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1617" next="#ID_1618"> Wann sich diese innere Wandlung vollzogen hat, wird wohl schwer zu<lb/>
bestimmen sein. Keinesfalls war sie schon 1863 eingetreten, als Fürst Bismarck<lb/>
zum erstenmal, gegen den Frankfurter Fürstentag, das allgemeine Wahlrecht<lb/>
ausspielte, und ebensowenig 1866, als er unmittelbar vor der Sprengung des<lb/>
Bundestags in seiner Zirkulardepesche vom 10. Juni &#x201E;die damals stärkste der<lb/>
freiheitlichen Künste in die Pfanne warf." Ju beiden Fällen diente die demo¬<lb/>
kratische Programmnnmmer den Zwecken der auswärtigen Politik, als Kampf¬<lb/>
mittel, im zweiten insbesondre, &#x201E;um das monarchische Ausland abzuschrecken<lb/>
von Versuchen, die Finger in unsre nationale omsIöUs zustecken." Da konnte<lb/>
von Bedenken keine Rede sein &#x201E;im Hinblick auf die Notwendigkeit, im Kampfe<lb/>
gegen eine Übermacht des Auslandes im äußersten Notfall auch zu revolutio¬<lb/>
nären Mitteln greifen zu können." Und auch 1867, als das soeben als Re-<lb/>
vvlutionsmittel benutzte Wahlrecht der Demokratie in den Entwurf zur Ver¬<lb/>
fassung des Norddeutschen Bundes aufgenommen wurde, hatte Fürst Bismarck<lb/>
sicher noch prinzipielle Bedenken, sie mußten jedoch abermals zurücktreten.</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> GrcnzboK'n II 1901 si?</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0537] [Abbildung] Änderungen des Reichstagswahlvechts as allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht ist eine der wenigen Staatseinrichtungen, über die Fürst Bismarck im Laufe der Zeit zu einer grundsätzlich andern Auffassung gelangt ist, als er früher hatte. Als er am 21, April 1849 in der Zweiten Kammer die Frankfurter Reichsverfassung kritisierte, erklärte er „die direkten Wahlen mit allgemeinem Stimmrecht" für eins der drei Grundübel, woran sie leide; die beiden andern waren, nebenbei erwähnt, das Prinzip der Volks- sonvcränitkt und die jährliche Bewilligung des Budgets. In seinen Gedanken und Erinnerungen dagegen heißt es Band II, Seite 58: „Außerdem halte ich noch heute das allgemeine Wahlrecht nicht bloß theoretisch, sondern auch prak¬ tisch für ein berechtigtes Prinzip, sobald mir die Heimlichkeit beseitigt wird. .. ." Der Zusammenhang ergiebt, daß nicht etwa ein allgemeines Wahlrecht mit ungleichem Anrecht und mit der Zwischenstufe von Wahlmänuern gemeint ist; Fürst Bismarck hatte das „bestehende," das Reichstagswahlrccht im Auge. Wann sich diese innere Wandlung vollzogen hat, wird wohl schwer zu bestimmen sein. Keinesfalls war sie schon 1863 eingetreten, als Fürst Bismarck zum erstenmal, gegen den Frankfurter Fürstentag, das allgemeine Wahlrecht ausspielte, und ebensowenig 1866, als er unmittelbar vor der Sprengung des Bundestags in seiner Zirkulardepesche vom 10. Juni „die damals stärkste der freiheitlichen Künste in die Pfanne warf." Ju beiden Fällen diente die demo¬ kratische Programmnnmmer den Zwecken der auswärtigen Politik, als Kampf¬ mittel, im zweiten insbesondre, „um das monarchische Ausland abzuschrecken von Versuchen, die Finger in unsre nationale omsIöUs zustecken." Da konnte von Bedenken keine Rede sein „im Hinblick auf die Notwendigkeit, im Kampfe gegen eine Übermacht des Auslandes im äußersten Notfall auch zu revolutio¬ nären Mitteln greifen zu können." Und auch 1867, als das soeben als Re- vvlutionsmittel benutzte Wahlrecht der Demokratie in den Entwurf zur Ver¬ fassung des Norddeutschen Bundes aufgenommen wurde, hatte Fürst Bismarck sicher noch prinzipielle Bedenken, sie mußten jedoch abermals zurücktreten. GrcnzboK'n II 1901 si?

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/537
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/537>, abgerufen am 29.06.2024.