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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Irrungen, Wirrungen, Klärungen
Dur Lage in Preußen

ogar für einen aufmerksamen preußischen Politiker war es in
den letzten Wochen schwer, sich ein klares Bild von der innern
politischen Lage Preußens zu machen. Fest stand nur, daß die
Mehrheit des Abgeordnetenhauses auch der zweiten, vom Grafen
Bülow in der Thronrede mit großem Nachdruck angekündigten
wasserwirtschaftlichen Vorlage ablehnend gegenüberstand, und daß die Verhand¬
lungen der Kanalkommission eine schier ermüdende, zuweilen an Obstruktion
erinnernde Breite angenommen hatten. Graf Bülow kam nicht in die Kom¬
mission, überließ es vielmehr dem Ressortmiuister von Thielen, die Vorlagen
der Regierung mit allerdings überlegner Sachkenntnis gegen die von den ver¬
schiedensten Seiten dagegen gerichteten Angriffe zu vertreten. Daß die parla¬
mentarischen Chancen der Vorlage, und zwar nicht bloß des Mittellandkanals,
sondern anch andrer höchst wichtiger Teile des Gesamtprojekts schlecht waren
und immer schlechter wurden, war deutlich genug. Aber für eine Kombination,
auf welche Weise die stark engagierte Staatsregierung ihren Hals aus der
immer enger werdenden Schlinge ziehn würde, fehlte es an jedem Anhalt.
Die freisinnigen Parteiblätter ließen sich unter diesen Umständen die Gelegen¬
heit nicht entgehn, mit den gewagtesten Behauptungen alles aufzubieten, um
die konservativen Parteien von der Regierung zu trennen und sich selbst oder
doch ihre Leute den: Kaiser als die allein möglichen Retter ans aller Not an¬
zupreisen. Es kann nicht geleugnet werden, daß die Gelegenheit dazu unge-
mein günstig erschien. Nicht bloß wegen der begeisterten Vorliebe des Kaisers
für den Kanal, sondern in den letzten Tagen anch wegen einer angeblichen
Verstimmung zwischen dem Kaiser und dem Reichskanzler. Mau erzählte ge¬
heimnisvoll - übrigens nicht bloß in liberalen Kreisen --, der Kaiser habe
während der Abwesenheit des Grafen Bülow von Berlin ohne vorherige
Fühlung mit diesem in Petersburg bestimmte Schritte in betreff unsers
künftigen Zollabkommens mit Rußland gethan. Dagegen habe Graf Bülow
sich -- natürlich in aller Form und Ehrerbietung -- verwahren müssen und
verwahrt, sodaß sein Rücktritt schou in den Bereich der Möglichkeit gerückt
gewesen sei. Ob um dieser Erzählung irgend ein Fetzen Wahrheit war, können
wir nicht verraten, weil wir es nicht wissen. Mißverständnisse und Irrungen
solcher Art sind allezeit möglich, wenn sie sich auch in der Regel ganz anders
abspielen, als sie nachträglich in parlamentarischen Kreisen erzählt zu werden




Irrungen, Wirrungen, Klärungen
Dur Lage in Preußen

ogar für einen aufmerksamen preußischen Politiker war es in
den letzten Wochen schwer, sich ein klares Bild von der innern
politischen Lage Preußens zu machen. Fest stand nur, daß die
Mehrheit des Abgeordnetenhauses auch der zweiten, vom Grafen
Bülow in der Thronrede mit großem Nachdruck angekündigten
wasserwirtschaftlichen Vorlage ablehnend gegenüberstand, und daß die Verhand¬
lungen der Kanalkommission eine schier ermüdende, zuweilen an Obstruktion
erinnernde Breite angenommen hatten. Graf Bülow kam nicht in die Kom¬
mission, überließ es vielmehr dem Ressortmiuister von Thielen, die Vorlagen
der Regierung mit allerdings überlegner Sachkenntnis gegen die von den ver¬
schiedensten Seiten dagegen gerichteten Angriffe zu vertreten. Daß die parla¬
mentarischen Chancen der Vorlage, und zwar nicht bloß des Mittellandkanals,
sondern anch andrer höchst wichtiger Teile des Gesamtprojekts schlecht waren
und immer schlechter wurden, war deutlich genug. Aber für eine Kombination,
auf welche Weise die stark engagierte Staatsregierung ihren Hals aus der
immer enger werdenden Schlinge ziehn würde, fehlte es an jedem Anhalt.
Die freisinnigen Parteiblätter ließen sich unter diesen Umständen die Gelegen¬
heit nicht entgehn, mit den gewagtesten Behauptungen alles aufzubieten, um
die konservativen Parteien von der Regierung zu trennen und sich selbst oder
doch ihre Leute den: Kaiser als die allein möglichen Retter ans aller Not an¬
zupreisen. Es kann nicht geleugnet werden, daß die Gelegenheit dazu unge-
mein günstig erschien. Nicht bloß wegen der begeisterten Vorliebe des Kaisers
für den Kanal, sondern in den letzten Tagen anch wegen einer angeblichen
Verstimmung zwischen dem Kaiser und dem Reichskanzler. Mau erzählte ge¬
heimnisvoll - übrigens nicht bloß in liberalen Kreisen —, der Kaiser habe
während der Abwesenheit des Grafen Bülow von Berlin ohne vorherige
Fühlung mit diesem in Petersburg bestimmte Schritte in betreff unsers
künftigen Zollabkommens mit Rußland gethan. Dagegen habe Graf Bülow
sich — natürlich in aller Form und Ehrerbietung — verwahren müssen und
verwahrt, sodaß sein Rücktritt schou in den Bereich der Möglichkeit gerückt
gewesen sei. Ob um dieser Erzählung irgend ein Fetzen Wahrheit war, können
wir nicht verraten, weil wir es nicht wissen. Mißverständnisse und Irrungen
solcher Art sind allezeit möglich, wenn sie sich auch in der Regel ganz anders
abspielen, als sie nachträglich in parlamentarischen Kreisen erzählt zu werden


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[0307] [Abbildung] Irrungen, Wirrungen, Klärungen Dur Lage in Preußen ogar für einen aufmerksamen preußischen Politiker war es in den letzten Wochen schwer, sich ein klares Bild von der innern politischen Lage Preußens zu machen. Fest stand nur, daß die Mehrheit des Abgeordnetenhauses auch der zweiten, vom Grafen Bülow in der Thronrede mit großem Nachdruck angekündigten wasserwirtschaftlichen Vorlage ablehnend gegenüberstand, und daß die Verhand¬ lungen der Kanalkommission eine schier ermüdende, zuweilen an Obstruktion erinnernde Breite angenommen hatten. Graf Bülow kam nicht in die Kom¬ mission, überließ es vielmehr dem Ressortmiuister von Thielen, die Vorlagen der Regierung mit allerdings überlegner Sachkenntnis gegen die von den ver¬ schiedensten Seiten dagegen gerichteten Angriffe zu vertreten. Daß die parla¬ mentarischen Chancen der Vorlage, und zwar nicht bloß des Mittellandkanals, sondern anch andrer höchst wichtiger Teile des Gesamtprojekts schlecht waren und immer schlechter wurden, war deutlich genug. Aber für eine Kombination, auf welche Weise die stark engagierte Staatsregierung ihren Hals aus der immer enger werdenden Schlinge ziehn würde, fehlte es an jedem Anhalt. Die freisinnigen Parteiblätter ließen sich unter diesen Umständen die Gelegen¬ heit nicht entgehn, mit den gewagtesten Behauptungen alles aufzubieten, um die konservativen Parteien von der Regierung zu trennen und sich selbst oder doch ihre Leute den: Kaiser als die allein möglichen Retter ans aller Not an¬ zupreisen. Es kann nicht geleugnet werden, daß die Gelegenheit dazu unge- mein günstig erschien. Nicht bloß wegen der begeisterten Vorliebe des Kaisers für den Kanal, sondern in den letzten Tagen anch wegen einer angeblichen Verstimmung zwischen dem Kaiser und dem Reichskanzler. Mau erzählte ge¬ heimnisvoll - übrigens nicht bloß in liberalen Kreisen —, der Kaiser habe während der Abwesenheit des Grafen Bülow von Berlin ohne vorherige Fühlung mit diesem in Petersburg bestimmte Schritte in betreff unsers künftigen Zollabkommens mit Rußland gethan. Dagegen habe Graf Bülow sich — natürlich in aller Form und Ehrerbietung — verwahren müssen und verwahrt, sodaß sein Rücktritt schou in den Bereich der Möglichkeit gerückt gewesen sei. Ob um dieser Erzählung irgend ein Fetzen Wahrheit war, können wir nicht verraten, weil wir es nicht wissen. Mißverständnisse und Irrungen solcher Art sind allezeit möglich, wenn sie sich auch in der Regel ganz anders abspielen, als sie nachträglich in parlamentarischen Kreisen erzählt zu werden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/307>, abgerufen am 03.07.2024.