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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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Kriegsminister General Andre und seine Reformen

diesem Zeitalter nationalökonomischer Unschuld kein Mensch eine Ahnung. Alle
Welt war überzeugt, daß die "Pfeffcrsäcke" Diebe und Räuber seien, und daß
an allem Unheil nichts schuld sei als der Fürkauf, d. h, der den unmittelbaren
Verkehr zwischen Produzenten und Konsumenten aufhebende Zwischenhandel, und
der Wucher, worunter man jede Übertretung des kanonischen Zinsverbots ver¬
stand. Der Mittelstand, wie wir hente sagen -- für jene Zeit paßt die Be¬
zeichnung eigentlich nicht, weil es keine Proletarier gab, wenn man nicht etwa
die Arbeiter der Tuchfabrikanten und das fahrende Volk so nennen will --,
dieser sehr bunt aus armen Rittern, aus Bauern, Handwerkern und Lohnarbeitern
gemischte Mittelstand tobte, und die edelsten Münner: Gener von Kaisersberg,
Wimpheling, Erasmus, Hütten, Hans Sachs, Luther, Zwingli donnerten gegen
die Fuggerei, wie der Kapitalismus damals genannt wurde. Der einzige Eck,
Luthers Todfeind, wagte es, im Auftrage der Fugger in einer Disputation
zu Bologna die Ansicht zu verteidigen, daß Zinsnehmen und Kaufmannsgewinu
nicht wider die Gebote Christi und seiner Kirche seien. Gar bald sollte dieser
verwünschte Profit samt allem Reichtum von selbst schwinden; denn zu dem
allgemeinen europäischen Unglück der Preissteigerung kam das besondre mittel¬
europäische der Verlegung der Handelswege, die Macht und Reichtum nach
Westen verschob. Am längstem haben in dem verarmten Deutschland und
Italien Augsburg und Venedig einigen Glanz bewahrt.

(Schluß folgt)




Kriegsminister General Andre und seine Reformen

le einschneidenden und vielfach auffallenden Maßregeln, die der
seit dem Mai des vorigen Jahres an der Spitze des französischen
Kricgsministeriums stehende General Andre namentlich dem Offi-
zierkorps gegenüber ergriffen hat, find in der Tagespresse oft
besprochen und je nach der Parteistellung verschieden beurteilt
worden. Es dürfte sich wohl verlohnen, auch in einer deutschen Zeitschrift die
Stellung, die General Andre der Armee und dein Offizierkorps gegenüber
eingenommen hat, etwas näher zu beleuchten.

Als Andre, der einunddreißigste Kriegsminister seit 1871, ohne daß er
bis dahin irgendwie an die Öffentlichkeit getreten war, das Portefeuille als
Nachfolger des Generals Gallifet übernahm, da prophezeite ihm niemand eine
lange Amtsdauer. Er war verhältnismüßig ein junger General, denn erst im
Mai 1899 war er Divisionsgeneral geworden, und der Anciennitüt nach war
er der 92. der 110 Divisionsgenerale, und man hörte vielfach die Ansicht


Kriegsminister General Andre und seine Reformen

diesem Zeitalter nationalökonomischer Unschuld kein Mensch eine Ahnung. Alle
Welt war überzeugt, daß die „Pfeffcrsäcke" Diebe und Räuber seien, und daß
an allem Unheil nichts schuld sei als der Fürkauf, d. h, der den unmittelbaren
Verkehr zwischen Produzenten und Konsumenten aufhebende Zwischenhandel, und
der Wucher, worunter man jede Übertretung des kanonischen Zinsverbots ver¬
stand. Der Mittelstand, wie wir hente sagen — für jene Zeit paßt die Be¬
zeichnung eigentlich nicht, weil es keine Proletarier gab, wenn man nicht etwa
die Arbeiter der Tuchfabrikanten und das fahrende Volk so nennen will —,
dieser sehr bunt aus armen Rittern, aus Bauern, Handwerkern und Lohnarbeitern
gemischte Mittelstand tobte, und die edelsten Münner: Gener von Kaisersberg,
Wimpheling, Erasmus, Hütten, Hans Sachs, Luther, Zwingli donnerten gegen
die Fuggerei, wie der Kapitalismus damals genannt wurde. Der einzige Eck,
Luthers Todfeind, wagte es, im Auftrage der Fugger in einer Disputation
zu Bologna die Ansicht zu verteidigen, daß Zinsnehmen und Kaufmannsgewinu
nicht wider die Gebote Christi und seiner Kirche seien. Gar bald sollte dieser
verwünschte Profit samt allem Reichtum von selbst schwinden; denn zu dem
allgemeinen europäischen Unglück der Preissteigerung kam das besondre mittel¬
europäische der Verlegung der Handelswege, die Macht und Reichtum nach
Westen verschob. Am längstem haben in dem verarmten Deutschland und
Italien Augsburg und Venedig einigen Glanz bewahrt.

(Schluß folgt)




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le einschneidenden und vielfach auffallenden Maßregeln, die der
seit dem Mai des vorigen Jahres an der Spitze des französischen
Kricgsministeriums stehende General Andre namentlich dem Offi-
zierkorps gegenüber ergriffen hat, find in der Tagespresse oft
besprochen und je nach der Parteistellung verschieden beurteilt
worden. Es dürfte sich wohl verlohnen, auch in einer deutschen Zeitschrift die
Stellung, die General Andre der Armee und dein Offizierkorps gegenüber
eingenommen hat, etwas näher zu beleuchten.

Als Andre, der einunddreißigste Kriegsminister seit 1871, ohne daß er
bis dahin irgendwie an die Öffentlichkeit getreten war, das Portefeuille als
Nachfolger des Generals Gallifet übernahm, da prophezeite ihm niemand eine
lange Amtsdauer. Er war verhältnismüßig ein junger General, denn erst im
Mai 1899 war er Divisionsgeneral geworden, und der Anciennitüt nach war
er der 92. der 110 Divisionsgenerale, und man hörte vielfach die Ansicht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/122>, abgerufen am 27.06.2024.