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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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nicht mit. Sich die Seele aus dem Leibe schinden, immer in Schulden stecken,
und Polenta und immer Polenta, und sehen, wie die Kinder von Tag zu Tag
mehr abkamen, das war nicht auszuhalten. Dann eine lange Krankheit des
Mädchens. Endlich hatte ihm der Blitz eine Kuh erschlagen, und nun gute
Nacht. Er hatte alles verkauft und wollte nun sehen, ob er in Amerika das
Leben fristen könne." "Mir aber klang, schließt de Amicis, wie ein Liedchen
das Wort Giordcmos durch den Sinn: "Unser Land wird glücklich sein, wenn
man sich daran erinnern wird, daß auch die Landleute Menschen sind." Ich
konnte es nicht aus dem Gedanken bringen, daß an diesem Elend menschliche
Bosheit und Selbstsucht einen guten Teil der Schuld tragen; so viele indolente
Grundherren, für die das Landleben nur ein gedankenloses Vergnügen auf
wenig Tage ist, und das jämmerliche Leben der Arbeiter eine hergebrachte
Klage utopistischer Humanitütsschwindler, so viele Pächter ohne Schonung und
Gewissen, so viele Wucherer ohne Herz und Rechtsgefühl, so viele Unternehmer
und Geschäftsleute, die auf jede Art Geld machen wollen."

Das sind in der That Zustände wie in Frankreich vor 1789, sie haben
denn auch einen tiefen Haß des Landvolks gegen die Signori der Städte er¬
zeugt. Amieis selbst nimmt ihn zu seinem Schmerze wahr, als er aufs Vorder¬
deck des "Galileo" unter die 1600 Zwischendeckpassagiere kommt. Da sieht
er überall finstre Blicke und hört halb unterdrückte Schmähworte, und wenn
man ihm Platz macht, so haben die Worte: un-Ao al siMvri! einen höhnischen,
herausfordernden Ton. Nur schwer überwindet er allmählich das tiefe Mi߬
trauen. In blutigen, zerstörenden Unruhen ist diese Stimmung während des
letzten Jahrzehnts immer wieder zum Ausbruch gekommen.

(Schluß folgt)




Bücher über den klassischen Hüben

> lasfisch ist der Süden für die moderne Welt eigentlich nur noch im
Sprachgebrauche. Seltsamer Widerspruch: Niemals sind Italien und
Griechenland von Nordländern mehr bereist worden als heute, und
niemals ist doch unser geistiges Verhältnis zu den klassischen Ländern
so locker gewesen wie heute. Gegen die Pflege der klassisch-huma-
Inistischen Bildung an uusern humanistischen Gymnasien laufen die
Realisten Sturm; sogar für die immer tiefer eindringende wissenschaftliche Philologie
und Archäologie ist das griechisch-römische Altertum nicht mehr in dem Sinne
klassisch, daß es uns Muster zur Nachahmung lieferte, oder daß seine Erzeugnisse
auch nur als etwas unbedingt Giltiges und Vorbildliches angesehen würden, wie noch
in der Zeit Goethes und des Neuhumanismus; sie sind für uus heutzutage so gut
historische und aus ihren Daseinsbedingungen heraus zu erklärende Erscheinungen,
wie die Kunst der Assyrer und die gottesdienstlichen Tänze der Südseeinsulaner.
Vollends die moderne Kunst, oder besser gesagt die Kunst der "Modernen," will


nicht mit. Sich die Seele aus dem Leibe schinden, immer in Schulden stecken,
und Polenta und immer Polenta, und sehen, wie die Kinder von Tag zu Tag
mehr abkamen, das war nicht auszuhalten. Dann eine lange Krankheit des
Mädchens. Endlich hatte ihm der Blitz eine Kuh erschlagen, und nun gute
Nacht. Er hatte alles verkauft und wollte nun sehen, ob er in Amerika das
Leben fristen könne." „Mir aber klang, schließt de Amicis, wie ein Liedchen
das Wort Giordcmos durch den Sinn: »Unser Land wird glücklich sein, wenn
man sich daran erinnern wird, daß auch die Landleute Menschen sind.« Ich
konnte es nicht aus dem Gedanken bringen, daß an diesem Elend menschliche
Bosheit und Selbstsucht einen guten Teil der Schuld tragen; so viele indolente
Grundherren, für die das Landleben nur ein gedankenloses Vergnügen auf
wenig Tage ist, und das jämmerliche Leben der Arbeiter eine hergebrachte
Klage utopistischer Humanitütsschwindler, so viele Pächter ohne Schonung und
Gewissen, so viele Wucherer ohne Herz und Rechtsgefühl, so viele Unternehmer
und Geschäftsleute, die auf jede Art Geld machen wollen."

Das sind in der That Zustände wie in Frankreich vor 1789, sie haben
denn auch einen tiefen Haß des Landvolks gegen die Signori der Städte er¬
zeugt. Amieis selbst nimmt ihn zu seinem Schmerze wahr, als er aufs Vorder¬
deck des „Galileo" unter die 1600 Zwischendeckpassagiere kommt. Da sieht
er überall finstre Blicke und hört halb unterdrückte Schmähworte, und wenn
man ihm Platz macht, so haben die Worte: un-Ao al siMvri! einen höhnischen,
herausfordernden Ton. Nur schwer überwindet er allmählich das tiefe Mi߬
trauen. In blutigen, zerstörenden Unruhen ist diese Stimmung während des
letzten Jahrzehnts immer wieder zum Ausbruch gekommen.

(Schluß folgt)




Bücher über den klassischen Hüben

> lasfisch ist der Süden für die moderne Welt eigentlich nur noch im
Sprachgebrauche. Seltsamer Widerspruch: Niemals sind Italien und
Griechenland von Nordländern mehr bereist worden als heute, und
niemals ist doch unser geistiges Verhältnis zu den klassischen Ländern
so locker gewesen wie heute. Gegen die Pflege der klassisch-huma-
Inistischen Bildung an uusern humanistischen Gymnasien laufen die
Realisten Sturm; sogar für die immer tiefer eindringende wissenschaftliche Philologie
und Archäologie ist das griechisch-römische Altertum nicht mehr in dem Sinne
klassisch, daß es uns Muster zur Nachahmung lieferte, oder daß seine Erzeugnisse
auch nur als etwas unbedingt Giltiges und Vorbildliches angesehen würden, wie noch
in der Zeit Goethes und des Neuhumanismus; sie sind für uus heutzutage so gut
historische und aus ihren Daseinsbedingungen heraus zu erklärende Erscheinungen,
wie die Kunst der Assyrer und die gottesdienstlichen Tänze der Südseeinsulaner.
Vollends die moderne Kunst, oder besser gesagt die Kunst der „Modernen," will


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/562>, abgerufen am 23.06.2024.