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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Line neue Theorie des Komischen

deu Rand des Verderbens; er lieferte die Errungenschaften von Jahrhunderten
emsiger, fast beispielloser Arbeit des Volkes der Vernichtung durch seemächtigere
Gegner aus; er führte den Zusammenbruch der politischen Machtstellung des
Staates herbei.




Gine neue Theorie des Komischen

ir Leute von der Feder beschweren uns immer darüber, daß das
deutsche Publikum zu wenig Bücher kaufe, aber im Grnnde ge¬
nommen kauft es viel zu viel; es kauft Schund, es kauft ver¬
rückte Bücher, es kauft Sachen, die durchzulesen der Rezensent
sich mir entschließen kann, wenn er ein gläubiger Christ ist, weil
er dann solche Lektüre als eine Buße für seiue Sünden auf sich nimmt, die
ihm ein paar Jührchen Fegefeuer ersparen. Zu dieser Sorte von Büchern gehört:
Das Komische. Eine Untersuchung von Dr. Karl Überhorst, ordentlichem
Professor der Philosophie an der Universität Innsbruck. (Leipzig, bei Georg
Wigand.) Der erste Teil, der das "Wirklich-Komische" behandelt oder viel¬
mehr behandeln soll, ist vor vier Jahren erschienen und muß doch Absatz ge¬
funden haben, sonst würde sich der Verleger auf den zweiten jetzt erschienenen
nicht eingelassen haben, der, 824 Seiten stark, "das Fälschlich-Komische, be¬
sondre Erscheinungen des Komischen, Witz, Spott und Scherz" behandelt und
außerdem "Nachträge zur Lehre vom Wirklich-Komischen" enthält. Schon die
Definition des "Wirklich-Komischen" ist ein Hohn auf die Ästhetik des zwanzigsten
Jahrhunderts. "Komisch erscheint uns ein Zeichen einer schlechten Eigenschaft
einer andern Person, wenn uns um uns selbst keines eben derselben schlechten
Eigenschaft zum Bewußtsein kommt, und das keine heftigen unangenehmen Ge¬
fühle in uns hervorruft." Ich lache über die Dummheiten, die ich selbst aus
Ungeschicklichkeit oder infolge meiner Taubheit begehe, gerade so wie über die
andrer Personen, und wenn auch oft, nicht immer, "eine schlechte Eigenschaft,"
worunter Überhorst alle geistigen, sittlichen, körperlichen und Bildungsmangel
versteht, den Anlaß zur Komik giebt, so liegt diese doch nicht in der "schlechten
Eigenschaft" selbst, sondern in deren Kontrast mit irgend etwas anderm. Ein
Loch in der Hose ist an sich nichts Komisches, sondern uur etwas Häßliches.
Über deu zerlumpten Vagabunden lachen wir nicht, sondern wir empfinden bei
seinem Anblick, je nach Stimmung und Umständen, Mitleid oder Entrüstung
oder Ekel. Dagegen lachen wir über einen Stutzer, dem, ohne daß ers ahnt,
ein Teufelchen die Gewandung verunziert hat, weil dann seine Erscheinung im
stärksten Gegensatz steht zu der Ängstlichkeit, mit der er die tadellose Eleganz
seines äußern Menschen anstrebt. Über zerlumpte Arme tonnen wir nnter


Line neue Theorie des Komischen

deu Rand des Verderbens; er lieferte die Errungenschaften von Jahrhunderten
emsiger, fast beispielloser Arbeit des Volkes der Vernichtung durch seemächtigere
Gegner aus; er führte den Zusammenbruch der politischen Machtstellung des
Staates herbei.




Gine neue Theorie des Komischen

ir Leute von der Feder beschweren uns immer darüber, daß das
deutsche Publikum zu wenig Bücher kaufe, aber im Grnnde ge¬
nommen kauft es viel zu viel; es kauft Schund, es kauft ver¬
rückte Bücher, es kauft Sachen, die durchzulesen der Rezensent
sich mir entschließen kann, wenn er ein gläubiger Christ ist, weil
er dann solche Lektüre als eine Buße für seiue Sünden auf sich nimmt, die
ihm ein paar Jührchen Fegefeuer ersparen. Zu dieser Sorte von Büchern gehört:
Das Komische. Eine Untersuchung von Dr. Karl Überhorst, ordentlichem
Professor der Philosophie an der Universität Innsbruck. (Leipzig, bei Georg
Wigand.) Der erste Teil, der das „Wirklich-Komische" behandelt oder viel¬
mehr behandeln soll, ist vor vier Jahren erschienen und muß doch Absatz ge¬
funden haben, sonst würde sich der Verleger auf den zweiten jetzt erschienenen
nicht eingelassen haben, der, 824 Seiten stark, „das Fälschlich-Komische, be¬
sondre Erscheinungen des Komischen, Witz, Spott und Scherz" behandelt und
außerdem „Nachträge zur Lehre vom Wirklich-Komischen" enthält. Schon die
Definition des „Wirklich-Komischen" ist ein Hohn auf die Ästhetik des zwanzigsten
Jahrhunderts. „Komisch erscheint uns ein Zeichen einer schlechten Eigenschaft
einer andern Person, wenn uns um uns selbst keines eben derselben schlechten
Eigenschaft zum Bewußtsein kommt, und das keine heftigen unangenehmen Ge¬
fühle in uns hervorruft." Ich lache über die Dummheiten, die ich selbst aus
Ungeschicklichkeit oder infolge meiner Taubheit begehe, gerade so wie über die
andrer Personen, und wenn auch oft, nicht immer, „eine schlechte Eigenschaft,"
worunter Überhorst alle geistigen, sittlichen, körperlichen und Bildungsmangel
versteht, den Anlaß zur Komik giebt, so liegt diese doch nicht in der „schlechten
Eigenschaft" selbst, sondern in deren Kontrast mit irgend etwas anderm. Ein
Loch in der Hose ist an sich nichts Komisches, sondern uur etwas Häßliches.
Über deu zerlumpten Vagabunden lachen wir nicht, sondern wir empfinden bei
seinem Anblick, je nach Stimmung und Umständen, Mitleid oder Entrüstung
oder Ekel. Dagegen lachen wir über einen Stutzer, dem, ohne daß ers ahnt,
ein Teufelchen die Gewandung verunziert hat, weil dann seine Erscheinung im
stärksten Gegensatz steht zu der Ängstlichkeit, mit der er die tadellose Eleganz
seines äußern Menschen anstrebt. Über zerlumpte Arme tonnen wir nnter


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/584>, abgerufen am 29.06.2024.