Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Frau in der Fabrik

hat, ohne daß sich der Kaiser -- wie das herkömmlich ist -- im Cercle gezeigt
hätte, und die Unmöglichkeit, mit den Russen zu verkehren, deren Thüren
sämtlich geschlossen sind.

Da sich der Kaiser nach Pawlowsk zurückgezogen hat, wird dem diplo¬
matischen Korps während dieses Sommers der Zwang erspart bleiben, der ihm
während des vorigen Jahres auferlegt worden war. Damals waren die aus¬
wärtigen Vertreter genötigt, aller Augenblicke in großer Gala weite Fahrten
zu unternehmen und Zeremonien beizuwohnen, die sich unaufhörlich wieder¬
holten. Die Vereinsamung, zu der der Kaiser sich gegenwärtig verurteilt hat,
erspart dem diplomatischen Korps diese Belästigungen. Wie lange das alles
dauern wird, vermag jedoch niemand vorauszuberechnen.




Die Frau in der Fabrik

in vorjährigen 40. Heft schreibt Herr Th. Stachle in Detmold:
"Die Frau muß der Familie zurückgegeben werden -- unter
dieser Losung veranstaltet der Herr Minister für Handel und
Gewerbe eine Statistik über die Beschäftigung verheirateter
Arbeiterinnen in Fabriken. Man will damit Material sammeln,
um festzustellen, ob es angängig sei, die Beschäftigung verheirateter Arbeite¬
rinnen in Fabriken überhaupt zu untersagen." Er berichtet über die Verhält¬
nisse der Frauen, die in seiner lithographischen Anstalt arbeiten, und zeigt,
einmal, daß in vielen Fällen die Arbeit der Frau außer dem Hause kein
sonderliches Übel ist, sodann, daß vielen Frauen, wenn sie leben "vollen, nichts
andres übrig bleibt, als in der Fabrik zu arbeiten, und sagt zum Schluß:
"Hoffentlich werden es die Herren am grünen Tisch verstehn, die Statistik zu
lesen, und werden begreifen, daß, ehe sie der Frau die Erwerbsmöglichkeit
nehmen, sie ihr die Ernührungsmöglichkeit geben müssen"; das nächste, was
der Staat in der Sache thun könne und solle, sei, daß er gewissenlose lieder¬
liche Männer zur Erfüllung ihrer Pflichten gegen die Familie anhalte. Man
könnte nun freilich einwenden, daß die Liederlichkeit bei den Männern des
Arbeiterstandes nicht so um sich greifen würde, wenn sie nicht wüßten, daß
die Frauen Gelegenheit zum Erwerb finden; ist doch manche Frau ein so gutes
dummes Arbeitstier, daß sie sich zu Tode rackert, um auch noch den lieder¬
lichen Mann durchzufüttern. Im Altertum und im Mittelalter ist den Männern
gar uicht einmal der Gedanke gekommen, der Frau den Broterwerb aufzubürden,
und im Orient denkt auch heute noch kein Mann daran. Aber freilich, der
Staat kann die wirtschaftliche Entwicklung, auf der bei uns die Möglichkeit


Die Frau in der Fabrik

hat, ohne daß sich der Kaiser — wie das herkömmlich ist — im Cercle gezeigt
hätte, und die Unmöglichkeit, mit den Russen zu verkehren, deren Thüren
sämtlich geschlossen sind.

Da sich der Kaiser nach Pawlowsk zurückgezogen hat, wird dem diplo¬
matischen Korps während dieses Sommers der Zwang erspart bleiben, der ihm
während des vorigen Jahres auferlegt worden war. Damals waren die aus¬
wärtigen Vertreter genötigt, aller Augenblicke in großer Gala weite Fahrten
zu unternehmen und Zeremonien beizuwohnen, die sich unaufhörlich wieder¬
holten. Die Vereinsamung, zu der der Kaiser sich gegenwärtig verurteilt hat,
erspart dem diplomatischen Korps diese Belästigungen. Wie lange das alles
dauern wird, vermag jedoch niemand vorauszuberechnen.




Die Frau in der Fabrik

in vorjährigen 40. Heft schreibt Herr Th. Stachle in Detmold:
„Die Frau muß der Familie zurückgegeben werden — unter
dieser Losung veranstaltet der Herr Minister für Handel und
Gewerbe eine Statistik über die Beschäftigung verheirateter
Arbeiterinnen in Fabriken. Man will damit Material sammeln,
um festzustellen, ob es angängig sei, die Beschäftigung verheirateter Arbeite¬
rinnen in Fabriken überhaupt zu untersagen." Er berichtet über die Verhält¬
nisse der Frauen, die in seiner lithographischen Anstalt arbeiten, und zeigt,
einmal, daß in vielen Fällen die Arbeit der Frau außer dem Hause kein
sonderliches Übel ist, sodann, daß vielen Frauen, wenn sie leben »vollen, nichts
andres übrig bleibt, als in der Fabrik zu arbeiten, und sagt zum Schluß:
„Hoffentlich werden es die Herren am grünen Tisch verstehn, die Statistik zu
lesen, und werden begreifen, daß, ehe sie der Frau die Erwerbsmöglichkeit
nehmen, sie ihr die Ernührungsmöglichkeit geben müssen"; das nächste, was
der Staat in der Sache thun könne und solle, sei, daß er gewissenlose lieder¬
liche Männer zur Erfüllung ihrer Pflichten gegen die Familie anhalte. Man
könnte nun freilich einwenden, daß die Liederlichkeit bei den Männern des
Arbeiterstandes nicht so um sich greifen würde, wenn sie nicht wüßten, daß
die Frauen Gelegenheit zum Erwerb finden; ist doch manche Frau ein so gutes
dummes Arbeitstier, daß sie sich zu Tode rackert, um auch noch den lieder¬
lichen Mann durchzufüttern. Im Altertum und im Mittelalter ist den Männern
gar uicht einmal der Gedanke gekommen, der Frau den Broterwerb aufzubürden,
und im Orient denkt auch heute noch kein Mann daran. Aber freilich, der
Staat kann die wirtschaftliche Entwicklung, auf der bei uns die Möglichkeit


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0334" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/290745"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Frau in der Fabrik</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1235" prev="#ID_1234"> hat, ohne daß sich der Kaiser &#x2014; wie das herkömmlich ist &#x2014; im Cercle gezeigt<lb/>
hätte, und die Unmöglichkeit, mit den Russen zu verkehren, deren Thüren<lb/>
sämtlich geschlossen sind.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1236"> Da sich der Kaiser nach Pawlowsk zurückgezogen hat, wird dem diplo¬<lb/>
matischen Korps während dieses Sommers der Zwang erspart bleiben, der ihm<lb/>
während des vorigen Jahres auferlegt worden war. Damals waren die aus¬<lb/>
wärtigen Vertreter genötigt, aller Augenblicke in großer Gala weite Fahrten<lb/>
zu unternehmen und Zeremonien beizuwohnen, die sich unaufhörlich wieder¬<lb/>
holten. Die Vereinsamung, zu der der Kaiser sich gegenwärtig verurteilt hat,<lb/>
erspart dem diplomatischen Korps diese Belästigungen. Wie lange das alles<lb/>
dauern wird, vermag jedoch niemand vorauszuberechnen.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Die Frau in der Fabrik</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1237" next="#ID_1238"> in vorjährigen 40. Heft schreibt Herr Th. Stachle in Detmold:<lb/>
&#x201E;Die Frau muß der Familie zurückgegeben werden &#x2014; unter<lb/>
dieser Losung veranstaltet der Herr Minister für Handel und<lb/>
Gewerbe eine Statistik über die Beschäftigung verheirateter<lb/>
Arbeiterinnen in Fabriken. Man will damit Material sammeln,<lb/>
um festzustellen, ob es angängig sei, die Beschäftigung verheirateter Arbeite¬<lb/>
rinnen in Fabriken überhaupt zu untersagen." Er berichtet über die Verhält¬<lb/>
nisse der Frauen, die in seiner lithographischen Anstalt arbeiten, und zeigt,<lb/>
einmal, daß in vielen Fällen die Arbeit der Frau außer dem Hause kein<lb/>
sonderliches Übel ist, sodann, daß vielen Frauen, wenn sie leben »vollen, nichts<lb/>
andres übrig bleibt, als in der Fabrik zu arbeiten, und sagt zum Schluß:<lb/>
&#x201E;Hoffentlich werden es die Herren am grünen Tisch verstehn, die Statistik zu<lb/>
lesen, und werden begreifen, daß, ehe sie der Frau die Erwerbsmöglichkeit<lb/>
nehmen, sie ihr die Ernührungsmöglichkeit geben müssen"; das nächste, was<lb/>
der Staat in der Sache thun könne und solle, sei, daß er gewissenlose lieder¬<lb/>
liche Männer zur Erfüllung ihrer Pflichten gegen die Familie anhalte. Man<lb/>
könnte nun freilich einwenden, daß die Liederlichkeit bei den Männern des<lb/>
Arbeiterstandes nicht so um sich greifen würde, wenn sie nicht wüßten, daß<lb/>
die Frauen Gelegenheit zum Erwerb finden; ist doch manche Frau ein so gutes<lb/>
dummes Arbeitstier, daß sie sich zu Tode rackert, um auch noch den lieder¬<lb/>
lichen Mann durchzufüttern. Im Altertum und im Mittelalter ist den Männern<lb/>
gar uicht einmal der Gedanke gekommen, der Frau den Broterwerb aufzubürden,<lb/>
und im Orient denkt auch heute noch kein Mann daran. Aber freilich, der<lb/>
Staat kann die wirtschaftliche Entwicklung, auf der bei uns die Möglichkeit</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0334] Die Frau in der Fabrik hat, ohne daß sich der Kaiser — wie das herkömmlich ist — im Cercle gezeigt hätte, und die Unmöglichkeit, mit den Russen zu verkehren, deren Thüren sämtlich geschlossen sind. Da sich der Kaiser nach Pawlowsk zurückgezogen hat, wird dem diplo¬ matischen Korps während dieses Sommers der Zwang erspart bleiben, der ihm während des vorigen Jahres auferlegt worden war. Damals waren die aus¬ wärtigen Vertreter genötigt, aller Augenblicke in großer Gala weite Fahrten zu unternehmen und Zeremonien beizuwohnen, die sich unaufhörlich wieder¬ holten. Die Vereinsamung, zu der der Kaiser sich gegenwärtig verurteilt hat, erspart dem diplomatischen Korps diese Belästigungen. Wie lange das alles dauern wird, vermag jedoch niemand vorauszuberechnen. Die Frau in der Fabrik in vorjährigen 40. Heft schreibt Herr Th. Stachle in Detmold: „Die Frau muß der Familie zurückgegeben werden — unter dieser Losung veranstaltet der Herr Minister für Handel und Gewerbe eine Statistik über die Beschäftigung verheirateter Arbeiterinnen in Fabriken. Man will damit Material sammeln, um festzustellen, ob es angängig sei, die Beschäftigung verheirateter Arbeite¬ rinnen in Fabriken überhaupt zu untersagen." Er berichtet über die Verhält¬ nisse der Frauen, die in seiner lithographischen Anstalt arbeiten, und zeigt, einmal, daß in vielen Fällen die Arbeit der Frau außer dem Hause kein sonderliches Übel ist, sodann, daß vielen Frauen, wenn sie leben »vollen, nichts andres übrig bleibt, als in der Fabrik zu arbeiten, und sagt zum Schluß: „Hoffentlich werden es die Herren am grünen Tisch verstehn, die Statistik zu lesen, und werden begreifen, daß, ehe sie der Frau die Erwerbsmöglichkeit nehmen, sie ihr die Ernührungsmöglichkeit geben müssen"; das nächste, was der Staat in der Sache thun könne und solle, sei, daß er gewissenlose lieder¬ liche Männer zur Erfüllung ihrer Pflichten gegen die Familie anhalte. Man könnte nun freilich einwenden, daß die Liederlichkeit bei den Männern des Arbeiterstandes nicht so um sich greifen würde, wenn sie nicht wüßten, daß die Frauen Gelegenheit zum Erwerb finden; ist doch manche Frau ein so gutes dummes Arbeitstier, daß sie sich zu Tode rackert, um auch noch den lieder¬ lichen Mann durchzufüttern. Im Altertum und im Mittelalter ist den Männern gar uicht einmal der Gedanke gekommen, der Frau den Broterwerb aufzubürden, und im Orient denkt auch heute noch kein Mann daran. Aber freilich, der Staat kann die wirtschaftliche Entwicklung, auf der bei uns die Möglichkeit

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/334
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/334>, abgerufen am 28.09.2024.