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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Europa und England
Lrnst von der Brügger von

elches auch die Motive des russischen Manifestes, das die Haager
Abrüstungskonferenz von 1899 einleitete, gewesen sein mögen,
der eine Mangel stand ihm auf der Stirn geschrieben, daß es
den wirklichen Triebkräften der heutigen europäischen Politik zu
wenig Rechnung trug. Daß alle Regierungen Europas offiziell
von Friedensliebe beseelt sind, wissen wir längst aus den mit schematischer
Einförmigkeit wiederkehrenden Erklärungen, die einen Teil aller Thronreden und
weler andern Reden der Staatshänpter ausmachen. In dieser Hinsicht konnte
die Erklärung des Zaren als Ersatz für die im Zarenreich mangelnde Gelegenheit,
Thronreden 'zu halten, gelten. Aber ebenso bekannt war es, daß der Vorschlag
einer allgemeinen Abrüstung oder auch nur Beschränkung weiterer Rüstungen auf
Grund eines Konferenzbeschlusses heute aussichtslos war. Das Manifest hatte
etwas jugendlich Sanguiuischcs, wie die Verkündigung eines neuen Evange¬
liums. Aber ihm fehlte auch nach andrer Seite hin die Klarheit und scharfe
Begrenzung, indem es sich nicht nur jenes zu weite Ziel steckte, sondern anch
zu weite Beteiligung in Anspruch nahm, also falsche Mittel anwandte. Wenn
und soweit es sich wirklich um Entlastung Europas vou den übermäßigen
Rüstungen handelte, konnten doch wohl nur die Staaten in Betracht kommen,
die eben schwer belastet waren, und die durch die Rüstungen andrer zur Ver-
'mehrung der eignen Kriegsstärke genötigt wurde". Solche Staaten waren und
sind die heutigen Großmächte; was aber hatten Bulgarien. Portugal, Belgien,
die Niederlande und viele andre mit Abrüstung zu thun, deren Rüstungen
ganz freiwillig sind, weil niemand sie bedroht, oder ganz unbedeutend, well
"und die schwerste Rüstung zwecklos wäre gegenüber den Streitkräften einer
Großmacht? Was sollten die Schweiz oder Belgien. Holland. Dänemark ab¬
rüsten, da sie für heutige Verhältnisse im Effekt eigentlich gar nicht gerüstet
sind oder jederzeit ruhig abrüsten können ohne unmittelbare Gefahr für steh


Grenzboten II 1900


Europa und England
Lrnst von der Brügger von

elches auch die Motive des russischen Manifestes, das die Haager
Abrüstungskonferenz von 1899 einleitete, gewesen sein mögen,
der eine Mangel stand ihm auf der Stirn geschrieben, daß es
den wirklichen Triebkräften der heutigen europäischen Politik zu
wenig Rechnung trug. Daß alle Regierungen Europas offiziell
von Friedensliebe beseelt sind, wissen wir längst aus den mit schematischer
Einförmigkeit wiederkehrenden Erklärungen, die einen Teil aller Thronreden und
weler andern Reden der Staatshänpter ausmachen. In dieser Hinsicht konnte
die Erklärung des Zaren als Ersatz für die im Zarenreich mangelnde Gelegenheit,
Thronreden 'zu halten, gelten. Aber ebenso bekannt war es, daß der Vorschlag
einer allgemeinen Abrüstung oder auch nur Beschränkung weiterer Rüstungen auf
Grund eines Konferenzbeschlusses heute aussichtslos war. Das Manifest hatte
etwas jugendlich Sanguiuischcs, wie die Verkündigung eines neuen Evange¬
liums. Aber ihm fehlte auch nach andrer Seite hin die Klarheit und scharfe
Begrenzung, indem es sich nicht nur jenes zu weite Ziel steckte, sondern anch
zu weite Beteiligung in Anspruch nahm, also falsche Mittel anwandte. Wenn
und soweit es sich wirklich um Entlastung Europas vou den übermäßigen
Rüstungen handelte, konnten doch wohl nur die Staaten in Betracht kommen,
die eben schwer belastet waren, und die durch die Rüstungen andrer zur Ver-
'mehrung der eignen Kriegsstärke genötigt wurde». Solche Staaten waren und
sind die heutigen Großmächte; was aber hatten Bulgarien. Portugal, Belgien,
die Niederlande und viele andre mit Abrüstung zu thun, deren Rüstungen
ganz freiwillig sind, weil niemand sie bedroht, oder ganz unbedeutend, well
"und die schwerste Rüstung zwecklos wäre gegenüber den Streitkräften einer
Großmacht? Was sollten die Schweiz oder Belgien. Holland. Dänemark ab¬
rüsten, da sie für heutige Verhältnisse im Effekt eigentlich gar nicht gerüstet
sind oder jederzeit ruhig abrüsten können ohne unmittelbare Gefahr für steh


Grenzboten II 1900
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[0321] [Abbildung] Europa und England Lrnst von der Brügger von elches auch die Motive des russischen Manifestes, das die Haager Abrüstungskonferenz von 1899 einleitete, gewesen sein mögen, der eine Mangel stand ihm auf der Stirn geschrieben, daß es den wirklichen Triebkräften der heutigen europäischen Politik zu wenig Rechnung trug. Daß alle Regierungen Europas offiziell von Friedensliebe beseelt sind, wissen wir längst aus den mit schematischer Einförmigkeit wiederkehrenden Erklärungen, die einen Teil aller Thronreden und weler andern Reden der Staatshänpter ausmachen. In dieser Hinsicht konnte die Erklärung des Zaren als Ersatz für die im Zarenreich mangelnde Gelegenheit, Thronreden 'zu halten, gelten. Aber ebenso bekannt war es, daß der Vorschlag einer allgemeinen Abrüstung oder auch nur Beschränkung weiterer Rüstungen auf Grund eines Konferenzbeschlusses heute aussichtslos war. Das Manifest hatte etwas jugendlich Sanguiuischcs, wie die Verkündigung eines neuen Evange¬ liums. Aber ihm fehlte auch nach andrer Seite hin die Klarheit und scharfe Begrenzung, indem es sich nicht nur jenes zu weite Ziel steckte, sondern anch zu weite Beteiligung in Anspruch nahm, also falsche Mittel anwandte. Wenn und soweit es sich wirklich um Entlastung Europas vou den übermäßigen Rüstungen handelte, konnten doch wohl nur die Staaten in Betracht kommen, die eben schwer belastet waren, und die durch die Rüstungen andrer zur Ver- 'mehrung der eignen Kriegsstärke genötigt wurde». Solche Staaten waren und sind die heutigen Großmächte; was aber hatten Bulgarien. Portugal, Belgien, die Niederlande und viele andre mit Abrüstung zu thun, deren Rüstungen ganz freiwillig sind, weil niemand sie bedroht, oder ganz unbedeutend, well "und die schwerste Rüstung zwecklos wäre gegenüber den Streitkräften einer Großmacht? Was sollten die Schweiz oder Belgien. Holland. Dänemark ab¬ rüsten, da sie für heutige Verhältnisse im Effekt eigentlich gar nicht gerüstet sind oder jederzeit ruhig abrüsten können ohne unmittelbare Gefahr für steh Grenzboten II 1900

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/321>, abgerufen am 29.06.2024.