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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Entwicklung und Fortschritt, Zivilisation und Kultur

er sich an unsre kurze Anzeige der "Ethnischen Gedanken über
Entwicklung" von Otto Werner im 10. Heft erinnert, wird
zwischen dieser und Chamberlains Rassen- und Religionsphilo¬
sophie eine auffällige aber nicht vollständige Übereinstimmung
finden. Wir haben dieser Gedankengruppe nur mit Einschrän¬
kungen, Vorbehalten und Korrekturen beizupflichten vermocht. Dagegen ent¬
spricht die Auffassung der in unsrer heutigen Überschrift angedeuteten Probleme
in den "Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts" ziemlich genau der unsern.
Die Soziologen, nicht bloß die sozialdemokratischen, ja sogar idealistische Philo¬
sophen wie Hegel sprechen von einem Fortschritt oder von einer Erziehung
des Menschengeschlechts, bei der alle Völker dieselben Kulturstufen zu ersteigen
hätten, die frühern Kulturstufen Vorstufen der spätern wären, und wenn ver-
schiedne Völker zugleich auf verschiednen Stufen gefunden werden, dies nur
daher käme, daß die einen langsamer fortschreiten als die andern oder sich
nach einer Zeit raschen Fortschritts ein Weilchen, etwa zwei- oder dreitausend
Jahre lang, ausrüsten. Chamberlain stellt nun zunächst den Satz auf, daß
es eine Menschheit gar nicht giebt. Es giebt eine Menge Menschenarten, die
ja genug gemeinsames haben, daß sie als eine von den Tieren verschiedne
Gattung von Wesen erkannt werden können, aber nicht genug gemeinsames,
daß sie als ein Ganzes bezeichnet werden könnten, von dem man sagen dürfte,
daß es sich entwickelte, fortschritte, dieselben Schicksale hätte. Wolle man einen
gemeinschaftlichen Ursprung aller Menschen annehmen, so sei dagegen nichts
einzuwenden, nur dürfe man nicht vergessen, daß dergleichen Annahmen ins
Gebiet der Spekulation und der Hypothesen gehörten, und auch die Annahme
des "Urariers" sei davon nicht ausgenommen. Thatsache sei nur, daß es seit
dem Beginn der historischen Zeit Völker gebe, die man ihrer ähnlichen Eigen¬
schaften wegen mit Recht in Gruppen zusammenfassen und mit einen: gemein¬
samen Namen bezeichnen dürfe. Aber diese Gruppen seien so grundverschieden,
daß von einer gemeinsamen Kultur oder einem gemeinsamen Fortschritt bei
ihnen keine Rede sein könne. Elisee Reclus, schreibt er Seite 710, habe ihm
versichert: kein einziger Europäer, auch solche nicht, die wie Richthofen und
Harte viele Jahre in China gelebt hätten, auch kein Missionar, der sein ganzes
Leben im Innersten des Landes zugebracht habe, könne von sich melden: ^'al
oovim un VKirwis. "Die Persönlichkeit des Chinesen ist eben für uns un¬
durchdringlich, wie die unsre ihm; ein Jäger versteht durch Sympathie von der




Entwicklung und Fortschritt, Zivilisation und Kultur

er sich an unsre kurze Anzeige der „Ethnischen Gedanken über
Entwicklung" von Otto Werner im 10. Heft erinnert, wird
zwischen dieser und Chamberlains Rassen- und Religionsphilo¬
sophie eine auffällige aber nicht vollständige Übereinstimmung
finden. Wir haben dieser Gedankengruppe nur mit Einschrän¬
kungen, Vorbehalten und Korrekturen beizupflichten vermocht. Dagegen ent¬
spricht die Auffassung der in unsrer heutigen Überschrift angedeuteten Probleme
in den „Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts" ziemlich genau der unsern.
Die Soziologen, nicht bloß die sozialdemokratischen, ja sogar idealistische Philo¬
sophen wie Hegel sprechen von einem Fortschritt oder von einer Erziehung
des Menschengeschlechts, bei der alle Völker dieselben Kulturstufen zu ersteigen
hätten, die frühern Kulturstufen Vorstufen der spätern wären, und wenn ver-
schiedne Völker zugleich auf verschiednen Stufen gefunden werden, dies nur
daher käme, daß die einen langsamer fortschreiten als die andern oder sich
nach einer Zeit raschen Fortschritts ein Weilchen, etwa zwei- oder dreitausend
Jahre lang, ausrüsten. Chamberlain stellt nun zunächst den Satz auf, daß
es eine Menschheit gar nicht giebt. Es giebt eine Menge Menschenarten, die
ja genug gemeinsames haben, daß sie als eine von den Tieren verschiedne
Gattung von Wesen erkannt werden können, aber nicht genug gemeinsames,
daß sie als ein Ganzes bezeichnet werden könnten, von dem man sagen dürfte,
daß es sich entwickelte, fortschritte, dieselben Schicksale hätte. Wolle man einen
gemeinschaftlichen Ursprung aller Menschen annehmen, so sei dagegen nichts
einzuwenden, nur dürfe man nicht vergessen, daß dergleichen Annahmen ins
Gebiet der Spekulation und der Hypothesen gehörten, und auch die Annahme
des „Urariers" sei davon nicht ausgenommen. Thatsache sei nur, daß es seit
dem Beginn der historischen Zeit Völker gebe, die man ihrer ähnlichen Eigen¬
schaften wegen mit Recht in Gruppen zusammenfassen und mit einen: gemein¬
samen Namen bezeichnen dürfe. Aber diese Gruppen seien so grundverschieden,
daß von einer gemeinsamen Kultur oder einem gemeinsamen Fortschritt bei
ihnen keine Rede sein könne. Elisee Reclus, schreibt er Seite 710, habe ihm
versichert: kein einziger Europäer, auch solche nicht, die wie Richthofen und
Harte viele Jahre in China gelebt hätten, auch kein Missionar, der sein ganzes
Leben im Innersten des Landes zugebracht habe, könne von sich melden: ^'al
oovim un VKirwis. „Die Persönlichkeit des Chinesen ist eben für uns un¬
durchdringlich, wie die unsre ihm; ein Jäger versteht durch Sympathie von der


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[0246] [Abbildung] Entwicklung und Fortschritt, Zivilisation und Kultur er sich an unsre kurze Anzeige der „Ethnischen Gedanken über Entwicklung" von Otto Werner im 10. Heft erinnert, wird zwischen dieser und Chamberlains Rassen- und Religionsphilo¬ sophie eine auffällige aber nicht vollständige Übereinstimmung finden. Wir haben dieser Gedankengruppe nur mit Einschrän¬ kungen, Vorbehalten und Korrekturen beizupflichten vermocht. Dagegen ent¬ spricht die Auffassung der in unsrer heutigen Überschrift angedeuteten Probleme in den „Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts" ziemlich genau der unsern. Die Soziologen, nicht bloß die sozialdemokratischen, ja sogar idealistische Philo¬ sophen wie Hegel sprechen von einem Fortschritt oder von einer Erziehung des Menschengeschlechts, bei der alle Völker dieselben Kulturstufen zu ersteigen hätten, die frühern Kulturstufen Vorstufen der spätern wären, und wenn ver- schiedne Völker zugleich auf verschiednen Stufen gefunden werden, dies nur daher käme, daß die einen langsamer fortschreiten als die andern oder sich nach einer Zeit raschen Fortschritts ein Weilchen, etwa zwei- oder dreitausend Jahre lang, ausrüsten. Chamberlain stellt nun zunächst den Satz auf, daß es eine Menschheit gar nicht giebt. Es giebt eine Menge Menschenarten, die ja genug gemeinsames haben, daß sie als eine von den Tieren verschiedne Gattung von Wesen erkannt werden können, aber nicht genug gemeinsames, daß sie als ein Ganzes bezeichnet werden könnten, von dem man sagen dürfte, daß es sich entwickelte, fortschritte, dieselben Schicksale hätte. Wolle man einen gemeinschaftlichen Ursprung aller Menschen annehmen, so sei dagegen nichts einzuwenden, nur dürfe man nicht vergessen, daß dergleichen Annahmen ins Gebiet der Spekulation und der Hypothesen gehörten, und auch die Annahme des „Urariers" sei davon nicht ausgenommen. Thatsache sei nur, daß es seit dem Beginn der historischen Zeit Völker gebe, die man ihrer ähnlichen Eigen¬ schaften wegen mit Recht in Gruppen zusammenfassen und mit einen: gemein¬ samen Namen bezeichnen dürfe. Aber diese Gruppen seien so grundverschieden, daß von einer gemeinsamen Kultur oder einem gemeinsamen Fortschritt bei ihnen keine Rede sein könne. Elisee Reclus, schreibt er Seite 710, habe ihm versichert: kein einziger Europäer, auch solche nicht, die wie Richthofen und Harte viele Jahre in China gelebt hätten, auch kein Missionar, der sein ganzes Leben im Innersten des Landes zugebracht habe, könne von sich melden: ^'al oovim un VKirwis. „Die Persönlichkeit des Chinesen ist eben für uns un¬ durchdringlich, wie die unsre ihm; ein Jäger versteht durch Sympathie von der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/246>, abgerufen am 29.06.2024.