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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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der menschlichen Nntur. Und so fahren wir immer weiter fort im Sammeln
und Anhäufen, als wenn wir dadurch genußfähiger werden könnten, wenn wir
noch mehr besitzen. Sich aus der Gesellschaftsklasse, in der man geboren und
erzogen ist, hinaus und sich in eine höhere hinein zu schwingen, ist die jähr¬
liche, tägliche, ja stündliche Beschäftigung von Millionen unter uns. Dieses
Bestreben "hinauf" könnte von Wert sein, wenn es in Wahrheit ein "hinauf"
bedeutete, wenn mau ein geistiges, moralisches, ja nur ein physisches Steigen
darunter verstünde, und nicht nur ein eingebildetes. Unsre Mittelklassen haben
schon vollen Anteil an den Genüssen der Reichen, und das einzige, was ihnen
fehlt, ist derselbe Prunk bei der Befriedigung. Das "Mehr", nach dem sie
streben, bedeutet aber uur ein Mehr an Equipagen, Häusern, Geld und Luxus,
ohne doch dadurch die Fähigkeit des Genießens steigern zu können. Und so
ist denn die Wurzel all unsers Strebens Geiz und Begehrlichkeit, acht der
Wunsch, mehr zu genießen, sondern immer mehr zu haben. Darum sollen auch
wir uns das Wort Christi gesagt sein lassen: "Hütet euch vor dem Geiz", und
füzt er hinzu: "niemand lebet davon, daß er viele Güter hat.""

Wir Deutschen sind andre geschichtliche Wege gegangen als die Engländer,
wir haben nicht ihre Jnsellage, wir haben auch eine etwas andre Nntnr des
Landes, etwas andres Klima. In der langen Periode des Niedergangs, die
dem Dreißigjährigen Kriege folgte, find wir arm an materiellen Gütern, be¬
scheiden, kleinlich, arm an Selbstvertrauen geworden. Ein leerer Schein ver¬
schüttete das staatliche Leben und verdeckte die Volkskraft, wir verloren den
Sinn für das Wirkliche, wurden Träumer. Grübler, Philosophen, Poeten,
Politische Doktrinäre. Das Wiedererscheinen materieller und seelischer Kraft in
innern und äußern Kriegen begann den Glauben an uns selbst wieder in uns
anzufachen. Der Maun vou Eisen fand uns lange kleingläubig; zögernd nur
erwachte das Verständnis für die Realität der Macht, für die schöpferische
Kraft des praktischen Willens. Die großen Kriege fegten eine Menge phan¬
tastischer Hausgötzen hinweg, an die wir glaubten ans Selbsttäuschung und
aus Verengerung des Gesichtskreises. Wir begannen zu arbeiten und zu schaffen,
zu wollen und zu fordern, vor allem Gut und Geld. In zwanzig Jahren
kamen wir so weit, daß wir einander erstaunt fragten, wie wir uus denn so
schnell verändert hätten, wo denn das Volk der Denker und Dichter geblieben
sei? Wir verstanden plötzlich Handel zu treiben wie die Holländer, Industrien
herzurichten wie die Engländer, wir wurden immer reicher und fanden uns
endlich wohlhabend genug, Kolonien zu gründen. Wir staunten über unsern
Reiß, unsre Erfolge, über-die aufblühenden Städte, den sich mächtig erweiternden
Handel, die Tüchtigkeit unsrer Industrie. Wir blieben in gewohnter Ärmlichkeit
M Anfang bei billiger und schlechter Ware, und mit steigendem Selbstvertrauen
stiegen Güte und Preis der Waren. Heute sind wir soweit, daß die Reichs-
gewalt trotz aller seit 1870 entfalteten gesetzgeberischen und administrativen


der menschlichen Nntur. Und so fahren wir immer weiter fort im Sammeln
und Anhäufen, als wenn wir dadurch genußfähiger werden könnten, wenn wir
noch mehr besitzen. Sich aus der Gesellschaftsklasse, in der man geboren und
erzogen ist, hinaus und sich in eine höhere hinein zu schwingen, ist die jähr¬
liche, tägliche, ja stündliche Beschäftigung von Millionen unter uns. Dieses
Bestreben »hinauf« könnte von Wert sein, wenn es in Wahrheit ein »hinauf«
bedeutete, wenn mau ein geistiges, moralisches, ja nur ein physisches Steigen
darunter verstünde, und nicht nur ein eingebildetes. Unsre Mittelklassen haben
schon vollen Anteil an den Genüssen der Reichen, und das einzige, was ihnen
fehlt, ist derselbe Prunk bei der Befriedigung. Das »Mehr«, nach dem sie
streben, bedeutet aber uur ein Mehr an Equipagen, Häusern, Geld und Luxus,
ohne doch dadurch die Fähigkeit des Genießens steigern zu können. Und so
ist denn die Wurzel all unsers Strebens Geiz und Begehrlichkeit, acht der
Wunsch, mehr zu genießen, sondern immer mehr zu haben. Darum sollen auch
wir uns das Wort Christi gesagt sein lassen: »Hütet euch vor dem Geiz«, und
füzt er hinzu: »niemand lebet davon, daß er viele Güter hat.«"

Wir Deutschen sind andre geschichtliche Wege gegangen als die Engländer,
wir haben nicht ihre Jnsellage, wir haben auch eine etwas andre Nntnr des
Landes, etwas andres Klima. In der langen Periode des Niedergangs, die
dem Dreißigjährigen Kriege folgte, find wir arm an materiellen Gütern, be¬
scheiden, kleinlich, arm an Selbstvertrauen geworden. Ein leerer Schein ver¬
schüttete das staatliche Leben und verdeckte die Volkskraft, wir verloren den
Sinn für das Wirkliche, wurden Träumer. Grübler, Philosophen, Poeten,
Politische Doktrinäre. Das Wiedererscheinen materieller und seelischer Kraft in
innern und äußern Kriegen begann den Glauben an uns selbst wieder in uns
anzufachen. Der Maun vou Eisen fand uns lange kleingläubig; zögernd nur
erwachte das Verständnis für die Realität der Macht, für die schöpferische
Kraft des praktischen Willens. Die großen Kriege fegten eine Menge phan¬
tastischer Hausgötzen hinweg, an die wir glaubten ans Selbsttäuschung und
aus Verengerung des Gesichtskreises. Wir begannen zu arbeiten und zu schaffen,
zu wollen und zu fordern, vor allem Gut und Geld. In zwanzig Jahren
kamen wir so weit, daß wir einander erstaunt fragten, wie wir uus denn so
schnell verändert hätten, wo denn das Volk der Denker und Dichter geblieben
sei? Wir verstanden plötzlich Handel zu treiben wie die Holländer, Industrien
herzurichten wie die Engländer, wir wurden immer reicher und fanden uns
endlich wohlhabend genug, Kolonien zu gründen. Wir staunten über unsern
Reiß, unsre Erfolge, über-die aufblühenden Städte, den sich mächtig erweiternden
Handel, die Tüchtigkeit unsrer Industrie. Wir blieben in gewohnter Ärmlichkeit
M Anfang bei billiger und schlechter Ware, und mit steigendem Selbstvertrauen
stiegen Güte und Preis der Waren. Heute sind wir soweit, daß die Reichs-
gewalt trotz aller seit 1870 entfalteten gesetzgeberischen und administrativen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/229>, abgerufen am 29.06.2024.