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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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von Ociul Kannen gieß er
1

äst ist ein Menschenalter verflossen, seitdem das Elsaß in Ver¬
bindung mit dein bisher ihm ziemlich fremd gebliebner Lothringen
dem neu erstandnen Deutschen Reiche eingefügt worden ist, und nur
ganz allmählich und viel zu langsam für politische Sanguiniker
und germanisiernngseifrige Heißsporne beginnt die eingeborne
Bevölkerung sich in das ihr anfangs so peinlich drückende Verhältnis zu siudeu.
^ohl hat der Protest seine Rolle ausgespielt, und die in dieser Hinsicht jüngst
l>n Reichstag von elsässischer Seite abgegebne Versicherung darf mit Befriedigung
begrüßt werden; aber die wachsende Teilnahme, die mau im Lande dem öffent-
lichen Leben zuwendet, hat in den meisten Fällen ihre fest gezognen lokalen
lenzen, und wie weit das Interesse unsrer elsässischen Politiker noch von der
entscheidenden Wendung zum nationalen entfernt ist, beweist der Umstand, daß
sich die Sitze ihrer Abgeordneten im Reichstag nur dann zu füllen pflegen,
wenn es sich um den jährlich wiederkehrenden und in der That auch immer
mehr berechtigten Antrag auf Beseitigung des Diktaturparagraphen handelt;
bezeichnend ist auch die verschwindend kleine Anzahl elsässischer Offiziere im
aktiven Heeresdienste. Schwerlich möchte der Mehrheit des Volkes eine stnat-
lche Wiedervereinigung mit Frankreich jetzt noch wünschenswert erscheinen; aber
das Land selbst ist ihm immer noch in hohem Grade sympathisch, und tausend
Mden verbinden es mit seinen Bewohnern. Neben klerikale,: Einflüssen, nicht
^'leer auch mit ihnen verbunden, machen sich besonders die immer aufs neue
wieder zwischen hüben und drüben geknüpften und mannigfach verschlungnen
Mmilienbeziehnngen geltend. Verwandtschaftliche Rücksichten erschweren die
' heschließungen zwischen Eingesessenen und Eingewanderten, die doch für das
Zusammenwachsen beider Teile so notwendig sind, und erklären allein schon
^ Schen, die so manchen im Grunde seines Herzens gar nicht feindseligen
^Isüsser von vertraulichern Beziehungen zum Altdeutschen zurückhält. Fran¬
zösische Sitte und Sprache werden als köstlicher Familienschatz gehütet; in
^e>em ü" Laufe zweier Jahrhunderte ihm immer dichter aufgetragnen Firnis,
urch den die derbe alemannische Natur an manchen Stellen doch kräftig genug
Mvorschewt, sieht der Elsüsser, vor allem der Städter, in begreiflicher Selbst-





von Ociul Kannen gieß er
1

äst ist ein Menschenalter verflossen, seitdem das Elsaß in Ver¬
bindung mit dein bisher ihm ziemlich fremd gebliebner Lothringen
dem neu erstandnen Deutschen Reiche eingefügt worden ist, und nur
ganz allmählich und viel zu langsam für politische Sanguiniker
und germanisiernngseifrige Heißsporne beginnt die eingeborne
Bevölkerung sich in das ihr anfangs so peinlich drückende Verhältnis zu siudeu.
^ohl hat der Protest seine Rolle ausgespielt, und die in dieser Hinsicht jüngst
l>n Reichstag von elsässischer Seite abgegebne Versicherung darf mit Befriedigung
begrüßt werden; aber die wachsende Teilnahme, die mau im Lande dem öffent-
lichen Leben zuwendet, hat in den meisten Fällen ihre fest gezognen lokalen
lenzen, und wie weit das Interesse unsrer elsässischen Politiker noch von der
entscheidenden Wendung zum nationalen entfernt ist, beweist der Umstand, daß
sich die Sitze ihrer Abgeordneten im Reichstag nur dann zu füllen pflegen,
wenn es sich um den jährlich wiederkehrenden und in der That auch immer
mehr berechtigten Antrag auf Beseitigung des Diktaturparagraphen handelt;
bezeichnend ist auch die verschwindend kleine Anzahl elsässischer Offiziere im
aktiven Heeresdienste. Schwerlich möchte der Mehrheit des Volkes eine stnat-
lche Wiedervereinigung mit Frankreich jetzt noch wünschenswert erscheinen; aber
das Land selbst ist ihm immer noch in hohem Grade sympathisch, und tausend
Mden verbinden es mit seinen Bewohnern. Neben klerikale,: Einflüssen, nicht
^'leer auch mit ihnen verbunden, machen sich besonders die immer aufs neue
wieder zwischen hüben und drüben geknüpften und mannigfach verschlungnen
Mmilienbeziehnngen geltend. Verwandtschaftliche Rücksichten erschweren die
' heschließungen zwischen Eingesessenen und Eingewanderten, die doch für das
Zusammenwachsen beider Teile so notwendig sind, und erklären allein schon
^ Schen, die so manchen im Grunde seines Herzens gar nicht feindseligen
^Isüsser von vertraulichern Beziehungen zum Altdeutschen zurückhält. Fran¬
zösische Sitte und Sprache werden als köstlicher Familienschatz gehütet; in
^e>em ü" Laufe zweier Jahrhunderte ihm immer dichter aufgetragnen Firnis,
urch den die derbe alemannische Natur an manchen Stellen doch kräftig genug
Mvorschewt, sieht der Elsüsser, vor allem der Städter, in begreiflicher Selbst-


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[0599] [Abbildung] von Ociul Kannen gieß er 1 äst ist ein Menschenalter verflossen, seitdem das Elsaß in Ver¬ bindung mit dein bisher ihm ziemlich fremd gebliebner Lothringen dem neu erstandnen Deutschen Reiche eingefügt worden ist, und nur ganz allmählich und viel zu langsam für politische Sanguiniker und germanisiernngseifrige Heißsporne beginnt die eingeborne Bevölkerung sich in das ihr anfangs so peinlich drückende Verhältnis zu siudeu. ^ohl hat der Protest seine Rolle ausgespielt, und die in dieser Hinsicht jüngst l>n Reichstag von elsässischer Seite abgegebne Versicherung darf mit Befriedigung begrüßt werden; aber die wachsende Teilnahme, die mau im Lande dem öffent- lichen Leben zuwendet, hat in den meisten Fällen ihre fest gezognen lokalen lenzen, und wie weit das Interesse unsrer elsässischen Politiker noch von der entscheidenden Wendung zum nationalen entfernt ist, beweist der Umstand, daß sich die Sitze ihrer Abgeordneten im Reichstag nur dann zu füllen pflegen, wenn es sich um den jährlich wiederkehrenden und in der That auch immer mehr berechtigten Antrag auf Beseitigung des Diktaturparagraphen handelt; bezeichnend ist auch die verschwindend kleine Anzahl elsässischer Offiziere im aktiven Heeresdienste. Schwerlich möchte der Mehrheit des Volkes eine stnat- lche Wiedervereinigung mit Frankreich jetzt noch wünschenswert erscheinen; aber das Land selbst ist ihm immer noch in hohem Grade sympathisch, und tausend Mden verbinden es mit seinen Bewohnern. Neben klerikale,: Einflüssen, nicht ^'leer auch mit ihnen verbunden, machen sich besonders die immer aufs neue wieder zwischen hüben und drüben geknüpften und mannigfach verschlungnen Mmilienbeziehnngen geltend. Verwandtschaftliche Rücksichten erschweren die ' heschließungen zwischen Eingesessenen und Eingewanderten, die doch für das Zusammenwachsen beider Teile so notwendig sind, und erklären allein schon ^ Schen, die so manchen im Grunde seines Herzens gar nicht feindseligen ^Isüsser von vertraulichern Beziehungen zum Altdeutschen zurückhält. Fran¬ zösische Sitte und Sprache werden als köstlicher Familienschatz gehütet; in ^e>em ü" Laufe zweier Jahrhunderte ihm immer dichter aufgetragnen Firnis, urch den die derbe alemannische Natur an manchen Stellen doch kräftig genug Mvorschewt, sieht der Elsüsser, vor allem der Städter, in begreiflicher Selbst-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/599>, abgerufen am 27.06.2024.