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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Was ist der ^raiuu?

liebe Frömmigkeit äußert, und daß sie nicht wertlos zu sein braucht, wenn
sie sich innig mit der kirchlichen Sitte verbindet. Es ist von vornherein
zu vermuten, daß bei den Evangelisationsversuchen schließlich nichts andres
herauskommen wird, als eine vermehrte "Stündelei" und damit eine ärgere
Zersetzung des kirchlichen Lebens auf dem Lande. Dem gegenüber dürfen wir
ganz getrost behaupten, daß das evangelische, das reformatorische Christentum
ein liebevolles Eingehn auf die deutsche Bauernart nicht ausschließt, sondern
geradezu gebietet. Ein Stand, dem Martin Luther entsprossen ist, hat vollen
Anspruch auf unsre Teilnahme.




N)as ist der Traum I7)

is Knabe träu
mte ich manchmal zusammenhängende Geschichten.
Eine solche erzählte ich einmal einem Kameraden, der aber sagte:
Scham dich doch! Wer wird denn an seine Träume denken und
sie erzählen, das thun nur die alten Weiber! Die Rüge wirkte;
aber zwei Träume merkte ich mir doch, weil sie mich über ihre
eigne Entstehung belehrten. Ich sehe eine Kirche, lind vom Turm außen das
Glockenseil herabhängen; ich laufe hiu, ziehe, erschrecke aber über den Klang
der Glocke, indem ich denke, was werden die Leute dazu sagen, daß du zu
ungewöchnlicher Zeit und ohne Anlaß läutest, laufe fort, kehre aber, durch einen
unerklärlichen Drang gezwungen, zurück und läute ein zweitesmnl. Davon
erwache ich, das heißt vom zweiten Anschlag des Klöppels an der Klingel des
zum Schlafsaal hereintretenden Hausknechts. Ein andermal sehe ich ein polhpeu-
artiges Ungeheuer herankriechen, das mit seinen Fnngnrmeu meine Hände um¬
klammert, sodaß sie schmerzen; erwachend finde ich, daß die Finger meiner
Hände verschlungen sind und einander gegenseitig drücke". Dreißig Jahre später
habe ich dann gelehrte Abhandlungen über diese Art Weckträume gelesen, die,
wie ich nun erfuhr, vielfach zu metaphhsischeu Spekulationen über die Natur
der Zeit benutzt werden, da mancher eine lange Geschichte träumt, von der der
weckende Sinnesreiz, der sie verursacht hat, die Schlußkatnstrophe zu sein scheint;
wie z. B. in Maurys Traum die Geschichte der Revolution mit seiner Guillo¬
tinierung schließt; es war ihm nämlich ein Brettchen uns den Halswirbel ge¬
fallen, und diese an Köpfung erinnernde Empfindung hatte die Revolutions-
geschichte hervorgerufen. Es mag hier gleich bemerkt werden, daß der Autor
des Buches, mit dem wir uns beschäftigen wollen, in diesen Vorkommnissen
keinen Anlaß zur Erörterung des Zeitproblems sieht, da seiner Ansicht nach
die Geschichte nicht erst im Traum gebildet, sondern fertig aus dein Gedächtnis
in den Traum herübergenommen, an die diese Erinnerung weckende Empfindung


Was ist der ^raiuu?

liebe Frömmigkeit äußert, und daß sie nicht wertlos zu sein braucht, wenn
sie sich innig mit der kirchlichen Sitte verbindet. Es ist von vornherein
zu vermuten, daß bei den Evangelisationsversuchen schließlich nichts andres
herauskommen wird, als eine vermehrte „Stündelei" und damit eine ärgere
Zersetzung des kirchlichen Lebens auf dem Lande. Dem gegenüber dürfen wir
ganz getrost behaupten, daß das evangelische, das reformatorische Christentum
ein liebevolles Eingehn auf die deutsche Bauernart nicht ausschließt, sondern
geradezu gebietet. Ein Stand, dem Martin Luther entsprossen ist, hat vollen
Anspruch auf unsre Teilnahme.




N)as ist der Traum I7)

is Knabe träu
mte ich manchmal zusammenhängende Geschichten.
Eine solche erzählte ich einmal einem Kameraden, der aber sagte:
Scham dich doch! Wer wird denn an seine Träume denken und
sie erzählen, das thun nur die alten Weiber! Die Rüge wirkte;
aber zwei Träume merkte ich mir doch, weil sie mich über ihre
eigne Entstehung belehrten. Ich sehe eine Kirche, lind vom Turm außen das
Glockenseil herabhängen; ich laufe hiu, ziehe, erschrecke aber über den Klang
der Glocke, indem ich denke, was werden die Leute dazu sagen, daß du zu
ungewöchnlicher Zeit und ohne Anlaß läutest, laufe fort, kehre aber, durch einen
unerklärlichen Drang gezwungen, zurück und läute ein zweitesmnl. Davon
erwache ich, das heißt vom zweiten Anschlag des Klöppels an der Klingel des
zum Schlafsaal hereintretenden Hausknechts. Ein andermal sehe ich ein polhpeu-
artiges Ungeheuer herankriechen, das mit seinen Fnngnrmeu meine Hände um¬
klammert, sodaß sie schmerzen; erwachend finde ich, daß die Finger meiner
Hände verschlungen sind und einander gegenseitig drücke». Dreißig Jahre später
habe ich dann gelehrte Abhandlungen über diese Art Weckträume gelesen, die,
wie ich nun erfuhr, vielfach zu metaphhsischeu Spekulationen über die Natur
der Zeit benutzt werden, da mancher eine lange Geschichte träumt, von der der
weckende Sinnesreiz, der sie verursacht hat, die Schlußkatnstrophe zu sein scheint;
wie z. B. in Maurys Traum die Geschichte der Revolution mit seiner Guillo¬
tinierung schließt; es war ihm nämlich ein Brettchen uns den Halswirbel ge¬
fallen, und diese an Köpfung erinnernde Empfindung hatte die Revolutions-
geschichte hervorgerufen. Es mag hier gleich bemerkt werden, daß der Autor
des Buches, mit dem wir uns beschäftigen wollen, in diesen Vorkommnissen
keinen Anlaß zur Erörterung des Zeitproblems sieht, da seiner Ansicht nach
die Geschichte nicht erst im Traum gebildet, sondern fertig aus dein Gedächtnis
in den Traum herübergenommen, an die diese Erinnerung weckende Empfindung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/548>, abgerufen am 27.06.2024.