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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Aber er schien sich eines andern besonnen zu haben: er hob noch ein zweites der
zierlichen Kärtchen ab und überreichte es der Favoritsultnnin, Diese, in einem
leichten Geplänkel mit dem Franzosen begriffen, hatte gerade ein reizendes Lächeln
auf der Werft, mit dem sie -- als liebliche Zuleika -- den galanten Gtaour be¬
denken wollte. Da es für den Stapellauf fix und fertig war, so erhielt es Fritz
für seine Aufmerksamkeit; eigentlich aus Versehen: es war ihr entglitten. Aber
das konnte Fritz ja nicht wissen! Diesesmal mußte er sich mit der bewußten
Serviette rasch ein wenig die Stirn tupfen.


Wer ein holdes Weib errungen,
Mische seinen Jubel ein!

Klara, sagte Paul und zog seine Schwester mit sich fort. Er hatte seinen
Arm unter den ihren gesteckt und führte sie, leise in sie hineinsprechend, auf und
ab im Saale. Darauf machte Frau Klara zwei ähnliche Promenaden mit ihrem
Gatten und mit Franz, nur mit dem Unterschiede, daß sie dabei das Wort führte,
während die beiden mehr zuhörten. Man erfuhr zwar nicht, was perhandelt
worden war, aber bei Tisch wurde das dreijährige Rotkäppchen neben den Pier¬
jährigen Dorfjungen gesetzt, und Ernst hatte gehört, daß Hans zu Franz gesagt
hatte, er hätte Paul das nicht zugetraut. Stille Wasser sind tief, hatte Franz
geantwortet.

Als Fritz auch für die beiden großherrlichen Leibtrabanten decken wollte, fand
er sie sanft entschlummert; der eine von ihnen hatte den ebenfalls schlafenden
Walter Tell auf dein Schoß: der Sohn des Freiheitshelden ruhte sanft in den
A G. Stellanns rmen des blinde" Werkzeugs tyrannischer Willkür.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Mein wunderlicher Freund.

Ich war noch ganz voll von der Musik
des Gewaudhauskonzerts am Abend vorher, als wir uns am Freitag trafen und
unsern gewohnten Rundgang machten. Ich bin ja nicht gerade das, sagte ich, was
man musikalisch nennt, aber ich muß doch sagen, daß ich mir mein Leben gar nicht
ohne die Konzerte denken könnte. Geht es auf den Herbst zu, und heißt es, den
Koffer für die Heimreise packen, so hilft mir über die Wehmut des Abschieds von
den Bergen der Gedanke hinweg, daß um bald das erste Konzert sein wird. Und
den ganzen Winter freue ich mich jede Woche auf den Donnerstag Abend. Es ist
der Höhepunkt der Woche.

Er ging gedankenvoll neben mir her und pfiff vor sich hin.

Ja die Eroika, sagte ich --

Ich war am Mittwoch einmal in der Probe, sagte er.

So, wirklich? Sie geht mir auch nicht aus dem Kopfe. Ist sie nicht
prachtvoll gespielt worden? Es ist eine Wonne, ein Kunstwerk in solcher Voll¬
endung an sich vorbeirauschen zu hören. Ich muß sagen, obgleich ich es sehr
richtig finde, daß man die alte engherzige Beschränkung auf das sogenannte
Klassische aufgegeben und die Pforten des Gewandhauses auch der neuen Musik
geöffnet hat -- den Lebenden und denen, die eine neue Welt der Töne geschaffen
und der Musik neue Wege gewiesen haben; ich muß sagen, daß mir -- aber


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Aber er schien sich eines andern besonnen zu haben: er hob noch ein zweites der
zierlichen Kärtchen ab und überreichte es der Favoritsultnnin, Diese, in einem
leichten Geplänkel mit dem Franzosen begriffen, hatte gerade ein reizendes Lächeln
auf der Werft, mit dem sie — als liebliche Zuleika — den galanten Gtaour be¬
denken wollte. Da es für den Stapellauf fix und fertig war, so erhielt es Fritz
für seine Aufmerksamkeit; eigentlich aus Versehen: es war ihr entglitten. Aber
das konnte Fritz ja nicht wissen! Diesesmal mußte er sich mit der bewußten
Serviette rasch ein wenig die Stirn tupfen.


Wer ein holdes Weib errungen,
Mische seinen Jubel ein!

Klara, sagte Paul und zog seine Schwester mit sich fort. Er hatte seinen
Arm unter den ihren gesteckt und führte sie, leise in sie hineinsprechend, auf und
ab im Saale. Darauf machte Frau Klara zwei ähnliche Promenaden mit ihrem
Gatten und mit Franz, nur mit dem Unterschiede, daß sie dabei das Wort führte,
während die beiden mehr zuhörten. Man erfuhr zwar nicht, was perhandelt
worden war, aber bei Tisch wurde das dreijährige Rotkäppchen neben den Pier¬
jährigen Dorfjungen gesetzt, und Ernst hatte gehört, daß Hans zu Franz gesagt
hatte, er hätte Paul das nicht zugetraut. Stille Wasser sind tief, hatte Franz
geantwortet.

Als Fritz auch für die beiden großherrlichen Leibtrabanten decken wollte, fand
er sie sanft entschlummert; der eine von ihnen hatte den ebenfalls schlafenden
Walter Tell auf dein Schoß: der Sohn des Freiheitshelden ruhte sanft in den
A G. Stellanns rmen des blinde» Werkzeugs tyrannischer Willkür.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Mein wunderlicher Freund.

Ich war noch ganz voll von der Musik
des Gewaudhauskonzerts am Abend vorher, als wir uns am Freitag trafen und
unsern gewohnten Rundgang machten. Ich bin ja nicht gerade das, sagte ich, was
man musikalisch nennt, aber ich muß doch sagen, daß ich mir mein Leben gar nicht
ohne die Konzerte denken könnte. Geht es auf den Herbst zu, und heißt es, den
Koffer für die Heimreise packen, so hilft mir über die Wehmut des Abschieds von
den Bergen der Gedanke hinweg, daß um bald das erste Konzert sein wird. Und
den ganzen Winter freue ich mich jede Woche auf den Donnerstag Abend. Es ist
der Höhepunkt der Woche.

Er ging gedankenvoll neben mir her und pfiff vor sich hin.

Ja die Eroika, sagte ich —

Ich war am Mittwoch einmal in der Probe, sagte er.

So, wirklich? Sie geht mir auch nicht aus dem Kopfe. Ist sie nicht
prachtvoll gespielt worden? Es ist eine Wonne, ein Kunstwerk in solcher Voll¬
endung an sich vorbeirauschen zu hören. Ich muß sagen, obgleich ich es sehr
richtig finde, daß man die alte engherzige Beschränkung auf das sogenannte
Klassische aufgegeben und die Pforten des Gewandhauses auch der neuen Musik
geöffnet hat — den Lebenden und denen, die eine neue Welt der Töne geschaffen
und der Musik neue Wege gewiesen haben; ich muß sagen, daß mir — aber


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[0418] Maßgebliches und Unmaßgebliches Aber er schien sich eines andern besonnen zu haben: er hob noch ein zweites der zierlichen Kärtchen ab und überreichte es der Favoritsultnnin, Diese, in einem leichten Geplänkel mit dem Franzosen begriffen, hatte gerade ein reizendes Lächeln auf der Werft, mit dem sie — als liebliche Zuleika — den galanten Gtaour be¬ denken wollte. Da es für den Stapellauf fix und fertig war, so erhielt es Fritz für seine Aufmerksamkeit; eigentlich aus Versehen: es war ihr entglitten. Aber das konnte Fritz ja nicht wissen! Diesesmal mußte er sich mit der bewußten Serviette rasch ein wenig die Stirn tupfen. Wer ein holdes Weib errungen, Mische seinen Jubel ein! Klara, sagte Paul und zog seine Schwester mit sich fort. Er hatte seinen Arm unter den ihren gesteckt und führte sie, leise in sie hineinsprechend, auf und ab im Saale. Darauf machte Frau Klara zwei ähnliche Promenaden mit ihrem Gatten und mit Franz, nur mit dem Unterschiede, daß sie dabei das Wort führte, während die beiden mehr zuhörten. Man erfuhr zwar nicht, was perhandelt worden war, aber bei Tisch wurde das dreijährige Rotkäppchen neben den Pier¬ jährigen Dorfjungen gesetzt, und Ernst hatte gehört, daß Hans zu Franz gesagt hatte, er hätte Paul das nicht zugetraut. Stille Wasser sind tief, hatte Franz geantwortet. Als Fritz auch für die beiden großherrlichen Leibtrabanten decken wollte, fand er sie sanft entschlummert; der eine von ihnen hatte den ebenfalls schlafenden Walter Tell auf dein Schoß: der Sohn des Freiheitshelden ruhte sanft in den A G. Stellanns rmen des blinde» Werkzeugs tyrannischer Willkür. Maßgebliches und Unmaßgebliches Mein wunderlicher Freund. Ich war noch ganz voll von der Musik des Gewaudhauskonzerts am Abend vorher, als wir uns am Freitag trafen und unsern gewohnten Rundgang machten. Ich bin ja nicht gerade das, sagte ich, was man musikalisch nennt, aber ich muß doch sagen, daß ich mir mein Leben gar nicht ohne die Konzerte denken könnte. Geht es auf den Herbst zu, und heißt es, den Koffer für die Heimreise packen, so hilft mir über die Wehmut des Abschieds von den Bergen der Gedanke hinweg, daß um bald das erste Konzert sein wird. Und den ganzen Winter freue ich mich jede Woche auf den Donnerstag Abend. Es ist der Höhepunkt der Woche. Er ging gedankenvoll neben mir her und pfiff vor sich hin. Ja die Eroika, sagte ich — Ich war am Mittwoch einmal in der Probe, sagte er. So, wirklich? Sie geht mir auch nicht aus dem Kopfe. Ist sie nicht prachtvoll gespielt worden? Es ist eine Wonne, ein Kunstwerk in solcher Voll¬ endung an sich vorbeirauschen zu hören. Ich muß sagen, obgleich ich es sehr richtig finde, daß man die alte engherzige Beschränkung auf das sogenannte Klassische aufgegeben und die Pforten des Gewandhauses auch der neuen Musik geöffnet hat — den Lebenden und denen, die eine neue Welt der Töne geschaffen und der Musik neue Wege gewiesen haben; ich muß sagen, daß mir — aber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/418>, abgerufen am 05.12.2024.