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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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dauern fast überkommt einen, daß die erste Eisenbahn, die erste Chaussee,
die nun doch kommen müssen, den letzten Rest volkstümlichen Lebens auch
hier zerstören und die Bevölkerung nivellieren werden, bis sie ist wie andre
Menschen auch. Freilich die innere Anlage dieser Menschen, die jetzt nur
untereinander beirrten, wird die Verwischung äußerer Sonderheiten noch lange
überdauern.

Der Mond stieg auf, als ich heimfuhr, und das milde fahle Licht ent¬
hüllte neue zauberische Reize der schweigenden Moorlandschaft, durch die mich
der Weg führte, und ich dachte an die Schilderung des Botanikers Griesebach:
"Ich habe das pfadlose Moor durchschreitend einen Punkt besucht, wie auf
offnem Meere, der ebne Boden am Horizont von einer reinen Kreislinie um¬
schlossen ward, und kein Baum, kein Strnnch, keine Hütte, kein Gegenstand von
eines Kindes Höhe ans der scheinbar unendlichen Einöde sich abgrenzte. Auch
die entlegner" Ansiedlungen, die im Birkengehölz verborgen noch lange wie
blaue Inseln in der Ferne erschienen, sinken zuletzt unter diesen freien Horizont
hinab. Dieses Schauspiel auf festem Boden fast ohne gleichen, überall hinauf
abgerundete Heiderasen, und über dem Schlamm gesellig lebende Halbgräser,
das einschränkend, zugleich seltsam das Gemüt mit der Gewalt des schranken¬
losen ergreifend, versetzt uns in ursprüngliche Naturzustände, wo eine organische,
jedoch einförmige Kraft, alles überwältigend, gewirkt hat."




Ein Hygieniker der italienischen Renaissance

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K^-MsO<n allen Zeiten hoch gesteigerter Kultur hat es Menschen gegeben,
die dem Luxus ihr ganz besondres Nachdenken zuwandten, und
darunter auch solche, die die niedrigste Art des Wohllebens, die
Genüsse des Essens und des Trinkens, dadurch zu erhöhen
suchten, daß sie sie mit allerlei äußerlich gewinnendem Schein
und immer neuen Reizmitteln umgaben. So hat man denn eins der untern
Bedürfnisse des Lebens in den Kreis der feinern gesellschaftlichen Erfordernisse
eingereiht und in ein für das Dasein der Menschen nicht ganz unwichtiges
System gebracht. Und wie es im Altertum und in den neuern Zeiten hier
und dort förmlich Perioden der Schlemmerei gegeben hat, so haben es dann
auch jedesmal einzelne Lebenskünstler in dieser Art von Wissenschaft besonders
weit gebracht. Dem gegenüber traten dann immer von Zeit zu Zeit wider¬
strebende Richtungen hervor, Cyniker, Stoiker, Anachoreten, freiwillige Bu߬
prediger und Brüder vom einfachen Leben, Temperenzler, Natnrheilfreunde und
Vegetarier -- sie alle sind, kulturgeschichtlich genommen, eine und dieselbe Er¬
scheinung.


dauern fast überkommt einen, daß die erste Eisenbahn, die erste Chaussee,
die nun doch kommen müssen, den letzten Rest volkstümlichen Lebens auch
hier zerstören und die Bevölkerung nivellieren werden, bis sie ist wie andre
Menschen auch. Freilich die innere Anlage dieser Menschen, die jetzt nur
untereinander beirrten, wird die Verwischung äußerer Sonderheiten noch lange
überdauern.

Der Mond stieg auf, als ich heimfuhr, und das milde fahle Licht ent¬
hüllte neue zauberische Reize der schweigenden Moorlandschaft, durch die mich
der Weg führte, und ich dachte an die Schilderung des Botanikers Griesebach:
„Ich habe das pfadlose Moor durchschreitend einen Punkt besucht, wie auf
offnem Meere, der ebne Boden am Horizont von einer reinen Kreislinie um¬
schlossen ward, und kein Baum, kein Strnnch, keine Hütte, kein Gegenstand von
eines Kindes Höhe ans der scheinbar unendlichen Einöde sich abgrenzte. Auch
die entlegner» Ansiedlungen, die im Birkengehölz verborgen noch lange wie
blaue Inseln in der Ferne erschienen, sinken zuletzt unter diesen freien Horizont
hinab. Dieses Schauspiel auf festem Boden fast ohne gleichen, überall hinauf
abgerundete Heiderasen, und über dem Schlamm gesellig lebende Halbgräser,
das einschränkend, zugleich seltsam das Gemüt mit der Gewalt des schranken¬
losen ergreifend, versetzt uns in ursprüngliche Naturzustände, wo eine organische,
jedoch einförmige Kraft, alles überwältigend, gewirkt hat."




Ein Hygieniker der italienischen Renaissance

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K^-MsO<n allen Zeiten hoch gesteigerter Kultur hat es Menschen gegeben,
die dem Luxus ihr ganz besondres Nachdenken zuwandten, und
darunter auch solche, die die niedrigste Art des Wohllebens, die
Genüsse des Essens und des Trinkens, dadurch zu erhöhen
suchten, daß sie sie mit allerlei äußerlich gewinnendem Schein
und immer neuen Reizmitteln umgaben. So hat man denn eins der untern
Bedürfnisse des Lebens in den Kreis der feinern gesellschaftlichen Erfordernisse
eingereiht und in ein für das Dasein der Menschen nicht ganz unwichtiges
System gebracht. Und wie es im Altertum und in den neuern Zeiten hier
und dort förmlich Perioden der Schlemmerei gegeben hat, so haben es dann
auch jedesmal einzelne Lebenskünstler in dieser Art von Wissenschaft besonders
weit gebracht. Dem gegenüber traten dann immer von Zeit zu Zeit wider¬
strebende Richtungen hervor, Cyniker, Stoiker, Anachoreten, freiwillige Bu߬
prediger und Brüder vom einfachen Leben, Temperenzler, Natnrheilfreunde und
Vegetarier — sie alle sind, kulturgeschichtlich genommen, eine und dieselbe Er¬
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/152>, abgerufen am 27.06.2024.