Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.Heinrich Abeken Otto Aaeinmel von us der rasch anwachsenden Masse der Brief- und Memoiren - Es ist kein Zufall, daß sich die Vertreter der verschiedensten Bildungs- Heinrich Abeken Otto Aaeinmel von us der rasch anwachsenden Masse der Brief- und Memoiren - Es ist kein Zufall, daß sich die Vertreter der verschiedensten Bildungs- <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0468" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/230900"/> <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341869_230431/figures/grenzboten_341869_230431_230900_000.jpg"/><lb/> </div> </div> <div n="1"> <head> Heinrich Abeken<lb/><note type="byline"> Otto Aaeinmel</note> von</head><lb/> <p xml:id="ID_1593"> us der rasch anwachsenden Masse der Brief- und Memoiren -<lb/> litteratur, die uns das Zeitalter Wilhelms I. und Bismarcks<lb/> immer mehr erhellt, tritt uns eine Fülle interessanter und eigen¬<lb/> tümlicher Persönlichkeiten klarer entgegen, als sie den Zeitgenossen<lb/> selbst während ihrer Wirksamkeit erschienen ist. Alle Stunde<lb/> und Berufsschichten sind in dieser Litteratur vertreten, denn alle sind in die<lb/> Arbeit an der Wiedergeburt Deutschlands hereingezogen worden. Die Be¬<lb/> trachtung dieser ungeheuern Wandlung wird dadurch noch interessanter, daß<lb/> sie mit einer entscheidenden Wendung des deutschen Bildungsideals zusammen¬<lb/> fiel. Ans einem Volke der Denker, Dichter und Träumer sind wir zu einem<lb/> Volke der praktischen That geworden. Gewiß ist auch dieser Gewinn, wie<lb/> jeder Fortschritt in der Entwicklung, mit Verlusten verknüpft, die zur Be¬<lb/> scheidenheit mahnen. Wir stehn in der starken Männlichkeit unsers nationalen<lb/> und politischen Empfindens weit ab von der verschwommnen weichen Welt-<lb/> bürgerlichkeit unsrer klassisch-humanistischen Zeit und insofern hoch über ihr,<lb/> aber von der vielseitigen, tiefen und reichen, auf das Innenleben, auf die Voll¬<lb/> endung der Persönlichkeit gerichteten Bildung dieser Zeit ist in dem Kampfe<lb/> um die größten politischen und wirtschaftliche» Ziele wenig mehr übrig ge¬<lb/> blieben; das Leben auch des Einzelnen ist einseitiger, härter, hastiger, unbe¬<lb/> friedigender geworden, und fast mit Neid müssen wir auf ein so reiches, in<lb/> sich geschlossenes, harmonisches Dasein zurücksehen, wie es Goethe gelebt hat.</p><lb/> <p xml:id="ID_1594" next="#ID_1595"> Es ist kein Zufall, daß sich die Vertreter der verschiedensten Bildungs-<lb/> richtungen und Bildungskreise um König Wilhelm sammelten, denn von ihm<lb/> und seiner Umgebung ist die politische Umwandlung ausgegangen, der die<lb/> geistige parallel läuft. Das Leben des Monarchen selbst wurzelte nur der<lb/> Zeit nach in der klassisch-humanistischen Periode, nicht seiner Bildung nach,<lb/> denn diese war ziemlich einseitig militärisch-preußisch; die Interessen, die<lb/> darüber hinauslagen, sind ihm erst viel später, erst in den Jahren seiner Re¬<lb/> gierung näher getreten, während sein nur um zwei Jahre älterer Bruder<lb/> Friedrich Wilhelm IV. ganz und gar litterarisch-ästhetischen und kirchlich-theo¬<lb/> logischen Interessen zugewandt war, bis zu dem Grade, daß man gesagt hat,<lb/> er sei zuerst Christ, dann Deutscher, aber ganz zuletzt erst Preuße gewesen.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0468]
[Abbildung]
Heinrich Abeken
Otto Aaeinmel von
us der rasch anwachsenden Masse der Brief- und Memoiren -
litteratur, die uns das Zeitalter Wilhelms I. und Bismarcks
immer mehr erhellt, tritt uns eine Fülle interessanter und eigen¬
tümlicher Persönlichkeiten klarer entgegen, als sie den Zeitgenossen
selbst während ihrer Wirksamkeit erschienen ist. Alle Stunde
und Berufsschichten sind in dieser Litteratur vertreten, denn alle sind in die
Arbeit an der Wiedergeburt Deutschlands hereingezogen worden. Die Be¬
trachtung dieser ungeheuern Wandlung wird dadurch noch interessanter, daß
sie mit einer entscheidenden Wendung des deutschen Bildungsideals zusammen¬
fiel. Ans einem Volke der Denker, Dichter und Träumer sind wir zu einem
Volke der praktischen That geworden. Gewiß ist auch dieser Gewinn, wie
jeder Fortschritt in der Entwicklung, mit Verlusten verknüpft, die zur Be¬
scheidenheit mahnen. Wir stehn in der starken Männlichkeit unsers nationalen
und politischen Empfindens weit ab von der verschwommnen weichen Welt-
bürgerlichkeit unsrer klassisch-humanistischen Zeit und insofern hoch über ihr,
aber von der vielseitigen, tiefen und reichen, auf das Innenleben, auf die Voll¬
endung der Persönlichkeit gerichteten Bildung dieser Zeit ist in dem Kampfe
um die größten politischen und wirtschaftliche» Ziele wenig mehr übrig ge¬
blieben; das Leben auch des Einzelnen ist einseitiger, härter, hastiger, unbe¬
friedigender geworden, und fast mit Neid müssen wir auf ein so reiches, in
sich geschlossenes, harmonisches Dasein zurücksehen, wie es Goethe gelebt hat.
Es ist kein Zufall, daß sich die Vertreter der verschiedensten Bildungs-
richtungen und Bildungskreise um König Wilhelm sammelten, denn von ihm
und seiner Umgebung ist die politische Umwandlung ausgegangen, der die
geistige parallel läuft. Das Leben des Monarchen selbst wurzelte nur der
Zeit nach in der klassisch-humanistischen Periode, nicht seiner Bildung nach,
denn diese war ziemlich einseitig militärisch-preußisch; die Interessen, die
darüber hinauslagen, sind ihm erst viel später, erst in den Jahren seiner Re¬
gierung näher getreten, während sein nur um zwei Jahre älterer Bruder
Friedrich Wilhelm IV. ganz und gar litterarisch-ästhetischen und kirchlich-theo¬
logischen Interessen zugewandt war, bis zu dem Grade, daß man gesagt hat,
er sei zuerst Christ, dann Deutscher, aber ganz zuletzt erst Preuße gewesen.
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