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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Leibe zu empfinden. Auch der Brotkorb der wirtschaftlichen Förderung muß
im zweiten Falle den störrischen Fabrikherren möglichst hoch gehängt werden.
Dann wird der Übermut schnell schwinden. Allerdings darf sich die Negierung
nicht als die Hüterin eines neuen Kleinstaats fühlen, was ihrer Selbstachtung
freilich sehr schmeichelt. Die Aufrechterhaltung des französischen Notariats,
das keine Eigentümlichkeit der Reichslande, sondern eine gemeinsame napoleo-
nische Rechtseinrichtung des deutschen linken Rheinufers ist, beweist aufs neue
die Sucht der Regierung, selbst veraltete Institute als elsaß-lothringische Sonder¬
barkeiten zu erhalten, auch wenn sich die altdeutschen Landschaften der neuen
Rechtseinheit fügen müssen.




Poesie und Erziehung
Wilhelm Münch von(Schluß)

oesie soll denn auch von mehr als einer Seite entgegenbringen
und fühlbar werden. Nicht bloß in dem Sinne von mehr als
einer Seite, daß dichterische Werke angeschaut werden aus den
verschiednen Sprachen, die zur Erlernung kommen, und auch aus
den verschiednen Zeiträumen, in denen die Dichtung der Mutter¬
sprache Blüten getrieben hat. Darüber gerade mögen aber doch
einige Erwägungen eingeschoben werden. Es ist viel schwerer, als die meisten
glauben, Poesie aus fremder Lebenssphäre ganz zu verstehen und verstehen zu
machen. Viel mehr und ganz andres stellt sich dazwischen als die Sprache
an sich. Man nimmt dabei im allgemeinen von den Linien der seelischen Be¬
wegung deutlich doch uur die höchstgeschwungnen Kurven wahr, und von dem
oft stillen und zarten Reiz der Form der Sprache muß vieles verloren gehn.
Was ein Wort, was eine Verbindung dem Einheimischen und von der Natur
selbst Eingeweihten sagt, in ihm wiederhallen läßt, kann von dem Fremden
kaum geahnt werden. Ein Vers aus Goethes Iphigenie, der für uns die
reinste seelische Musik ist, bedeutet dem unsrer Sprache kundigen Ausländer
doch oft nicht mehr als eine Sentenz, einen verständigen Gedanken, vielleicht
gar einen selbstverständlichen. Und so ist auch uns vieles an dem draußen
Gesungnen nur geordnetes Geräusch oder verständiger Sinn, aber noch nicht
hoher Klang. Erst das andauerndste, tiefste und sorgsamste Einleben vermag
all das Starre zu beseelen, und nur Einzelne gelangen dazu. Am ehesten wird
es denen, die selbst Dichter sind, gegeben, auch in die Poesie fremder Zungen
und Seelen unmittelbar hineinzubringen, selbst ohne etwas von philologischer
Meisterschaft über die Sprache; und das ist ja auch nicht wunderbar.

Selbst die antike Poesie, die nun allen Völkern gleichmäßig und voll zu


Leibe zu empfinden. Auch der Brotkorb der wirtschaftlichen Förderung muß
im zweiten Falle den störrischen Fabrikherren möglichst hoch gehängt werden.
Dann wird der Übermut schnell schwinden. Allerdings darf sich die Negierung
nicht als die Hüterin eines neuen Kleinstaats fühlen, was ihrer Selbstachtung
freilich sehr schmeichelt. Die Aufrechterhaltung des französischen Notariats,
das keine Eigentümlichkeit der Reichslande, sondern eine gemeinsame napoleo-
nische Rechtseinrichtung des deutschen linken Rheinufers ist, beweist aufs neue
die Sucht der Regierung, selbst veraltete Institute als elsaß-lothringische Sonder¬
barkeiten zu erhalten, auch wenn sich die altdeutschen Landschaften der neuen
Rechtseinheit fügen müssen.




Poesie und Erziehung
Wilhelm Münch von(Schluß)

oesie soll denn auch von mehr als einer Seite entgegenbringen
und fühlbar werden. Nicht bloß in dem Sinne von mehr als
einer Seite, daß dichterische Werke angeschaut werden aus den
verschiednen Sprachen, die zur Erlernung kommen, und auch aus
den verschiednen Zeiträumen, in denen die Dichtung der Mutter¬
sprache Blüten getrieben hat. Darüber gerade mögen aber doch
einige Erwägungen eingeschoben werden. Es ist viel schwerer, als die meisten
glauben, Poesie aus fremder Lebenssphäre ganz zu verstehen und verstehen zu
machen. Viel mehr und ganz andres stellt sich dazwischen als die Sprache
an sich. Man nimmt dabei im allgemeinen von den Linien der seelischen Be¬
wegung deutlich doch uur die höchstgeschwungnen Kurven wahr, und von dem
oft stillen und zarten Reiz der Form der Sprache muß vieles verloren gehn.
Was ein Wort, was eine Verbindung dem Einheimischen und von der Natur
selbst Eingeweihten sagt, in ihm wiederhallen läßt, kann von dem Fremden
kaum geahnt werden. Ein Vers aus Goethes Iphigenie, der für uns die
reinste seelische Musik ist, bedeutet dem unsrer Sprache kundigen Ausländer
doch oft nicht mehr als eine Sentenz, einen verständigen Gedanken, vielleicht
gar einen selbstverständlichen. Und so ist auch uns vieles an dem draußen
Gesungnen nur geordnetes Geräusch oder verständiger Sinn, aber noch nicht
hoher Klang. Erst das andauerndste, tiefste und sorgsamste Einleben vermag
all das Starre zu beseelen, und nur Einzelne gelangen dazu. Am ehesten wird
es denen, die selbst Dichter sind, gegeben, auch in die Poesie fremder Zungen
und Seelen unmittelbar hineinzubringen, selbst ohne etwas von philologischer
Meisterschaft über die Sprache; und das ist ja auch nicht wunderbar.

Selbst die antike Poesie, die nun allen Völkern gleichmäßig und voll zu


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[0496] Leibe zu empfinden. Auch der Brotkorb der wirtschaftlichen Förderung muß im zweiten Falle den störrischen Fabrikherren möglichst hoch gehängt werden. Dann wird der Übermut schnell schwinden. Allerdings darf sich die Negierung nicht als die Hüterin eines neuen Kleinstaats fühlen, was ihrer Selbstachtung freilich sehr schmeichelt. Die Aufrechterhaltung des französischen Notariats, das keine Eigentümlichkeit der Reichslande, sondern eine gemeinsame napoleo- nische Rechtseinrichtung des deutschen linken Rheinufers ist, beweist aufs neue die Sucht der Regierung, selbst veraltete Institute als elsaß-lothringische Sonder¬ barkeiten zu erhalten, auch wenn sich die altdeutschen Landschaften der neuen Rechtseinheit fügen müssen. Poesie und Erziehung Wilhelm Münch von(Schluß) oesie soll denn auch von mehr als einer Seite entgegenbringen und fühlbar werden. Nicht bloß in dem Sinne von mehr als einer Seite, daß dichterische Werke angeschaut werden aus den verschiednen Sprachen, die zur Erlernung kommen, und auch aus den verschiednen Zeiträumen, in denen die Dichtung der Mutter¬ sprache Blüten getrieben hat. Darüber gerade mögen aber doch einige Erwägungen eingeschoben werden. Es ist viel schwerer, als die meisten glauben, Poesie aus fremder Lebenssphäre ganz zu verstehen und verstehen zu machen. Viel mehr und ganz andres stellt sich dazwischen als die Sprache an sich. Man nimmt dabei im allgemeinen von den Linien der seelischen Be¬ wegung deutlich doch uur die höchstgeschwungnen Kurven wahr, und von dem oft stillen und zarten Reiz der Form der Sprache muß vieles verloren gehn. Was ein Wort, was eine Verbindung dem Einheimischen und von der Natur selbst Eingeweihten sagt, in ihm wiederhallen läßt, kann von dem Fremden kaum geahnt werden. Ein Vers aus Goethes Iphigenie, der für uns die reinste seelische Musik ist, bedeutet dem unsrer Sprache kundigen Ausländer doch oft nicht mehr als eine Sentenz, einen verständigen Gedanken, vielleicht gar einen selbstverständlichen. Und so ist auch uns vieles an dem draußen Gesungnen nur geordnetes Geräusch oder verständiger Sinn, aber noch nicht hoher Klang. Erst das andauerndste, tiefste und sorgsamste Einleben vermag all das Starre zu beseelen, und nur Einzelne gelangen dazu. Am ehesten wird es denen, die selbst Dichter sind, gegeben, auch in die Poesie fremder Zungen und Seelen unmittelbar hineinzubringen, selbst ohne etwas von philologischer Meisterschaft über die Sprache; und das ist ja auch nicht wunderbar. Selbst die antike Poesie, die nun allen Völkern gleichmäßig und voll zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/496>, abgerufen am 23.07.2024.