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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

So nach und nach hatte sich ganz Senkenbergs ein angenehmes Interesse für
Stadels Lenkbaren bemächtigt; in den Kneipen sprachen sie von ihm, in den Kaffee¬
gesellschaften schüttelten sie die Köpfe und bedauerten die arme Person, die Schneiderin,
die soviel Last mit ihrem verdrehten Mannsvolk habe, Ackermanns Wiese lag zwar
weit draußen, aber für einen Feierabendspaziergang immerhin noch erreichbar. Wer
seiner Gesundheit Bewegung gönnte, lief Heuer auf die Buschwiese hinaus.

Es wird natürlich wieder nichts, sprach Hinz zu Kunz, denn die Naturgesetze
kann man nicht weglöschen wie falsche Exempel von der Schiefertafel, aber die
Zunft der Narren ist groß, seitdem sich der erste die Schellenkappe über die Ohren
gezogen hat.

Und Kunz rechnete Hinz vor, was seit hundert Jahren für reale Werte,
Stücke unersetzlichen Volksvermögens verprobiert und in die Luft gejagt worden
seien. Seine Wahrscheinlichkeitsrechnung brachte eine abenteuerliche Summe zusammen,
und je größer die wurde, desto lustiger wuchs auch die Narrenkappe, die auf dein
Haupte der Stadels und Nothnagels saß.

(Fortsetzung folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Das russische Budget für 1899

und die russische Dorfverfassung.
Herr Witte hat schon oft und viele Leute in Erstaunen gesetzt; er übertrifft sich
aber selbst in dem am 1. Januar a. Se. publizierten Budget für 1399 und dem
daran geknüpften Rechenschaftsbericht.

Das Budget schwebt mit rund 1572 Millionen Rubeln in Einnahme und
Ausgabe, um 97 Millionen mehr als im Vorjahre. Um diese Höhe der Einnahme
zu erreichen, bedarf der Münster keiner neuen Anleihen; vielmehr hat er im vorigen
Jahre über die budgetmäßigen Anschläge hinaus noch der Reichsbank 75 Millionen
übergeben können, hat für das Gebiet des Notstands 35 Millionen ausgesetzt, hat
90 Millionen für Schiffsbauteu gefunden, hat 83 Millionen verwandt für Schulden¬
tilgung, Darlehen an Eisenbahnen n. a. in., und hat doch am 1. Januar 1899
einen Einnahmerest von 115 Millionen in der Hand behalten, rin dem die außer¬
ordentlichen Ausgaben des laufenden Jahres voll gedeckt werden sollen. Woher
sind diese Summen um geflossen? Am 1. Januar 1898 befand sich in der Reichs-
rentei ein verfügbarer Barbestand von 214,7 Millionen; in den ersten elf Monaten
1898 überstiegen die ordentlichen Einnahmen die Anschläge des Budgets um
212,5 Millionen; dazu kamen 83 Millionen unvorhergesehene Eingänge, 10 Mil¬
lionen an veranschlagten, aber nicht aufgebrauchten Ausgnbeposten früherer Jahre.
Das macht zusammen 522,5 Millionen Rubel, die über das Budget hinaus in die
Hand des Ministers geflossen sind und mit Ausnahme von 98 Millionen, die in
außerordentlichen Einnahmen für 1899 gebucht siud, unter dem nennen freier Bar¬
bestände außerhalb des Budgets auch verwandt wurden oder werden zu außer¬
ordentlichen Ausgaben. Budgetmäßig sind all außerordentlichen Ausgabe" eingestellt
109 Millionen. Für 1893 ist also aus jenen Barbeständen zu außerordentliche"


Grenzboten I 139" 3ö
Maßgebliches und Unmaßgebliches

So nach und nach hatte sich ganz Senkenbergs ein angenehmes Interesse für
Stadels Lenkbaren bemächtigt; in den Kneipen sprachen sie von ihm, in den Kaffee¬
gesellschaften schüttelten sie die Köpfe und bedauerten die arme Person, die Schneiderin,
die soviel Last mit ihrem verdrehten Mannsvolk habe, Ackermanns Wiese lag zwar
weit draußen, aber für einen Feierabendspaziergang immerhin noch erreichbar. Wer
seiner Gesundheit Bewegung gönnte, lief Heuer auf die Buschwiese hinaus.

Es wird natürlich wieder nichts, sprach Hinz zu Kunz, denn die Naturgesetze
kann man nicht weglöschen wie falsche Exempel von der Schiefertafel, aber die
Zunft der Narren ist groß, seitdem sich der erste die Schellenkappe über die Ohren
gezogen hat.

Und Kunz rechnete Hinz vor, was seit hundert Jahren für reale Werte,
Stücke unersetzlichen Volksvermögens verprobiert und in die Luft gejagt worden
seien. Seine Wahrscheinlichkeitsrechnung brachte eine abenteuerliche Summe zusammen,
und je größer die wurde, desto lustiger wuchs auch die Narrenkappe, die auf dein
Haupte der Stadels und Nothnagels saß.

(Fortsetzung folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Das russische Budget für 1899

und die russische Dorfverfassung.
Herr Witte hat schon oft und viele Leute in Erstaunen gesetzt; er übertrifft sich
aber selbst in dem am 1. Januar a. Se. publizierten Budget für 1399 und dem
daran geknüpften Rechenschaftsbericht.

Das Budget schwebt mit rund 1572 Millionen Rubeln in Einnahme und
Ausgabe, um 97 Millionen mehr als im Vorjahre. Um diese Höhe der Einnahme
zu erreichen, bedarf der Münster keiner neuen Anleihen; vielmehr hat er im vorigen
Jahre über die budgetmäßigen Anschläge hinaus noch der Reichsbank 75 Millionen
übergeben können, hat für das Gebiet des Notstands 35 Millionen ausgesetzt, hat
90 Millionen für Schiffsbauteu gefunden, hat 83 Millionen verwandt für Schulden¬
tilgung, Darlehen an Eisenbahnen n. a. in., und hat doch am 1. Januar 1899
einen Einnahmerest von 115 Millionen in der Hand behalten, rin dem die außer¬
ordentlichen Ausgaben des laufenden Jahres voll gedeckt werden sollen. Woher
sind diese Summen um geflossen? Am 1. Januar 1898 befand sich in der Reichs-
rentei ein verfügbarer Barbestand von 214,7 Millionen; in den ersten elf Monaten
1898 überstiegen die ordentlichen Einnahmen die Anschläge des Budgets um
212,5 Millionen; dazu kamen 83 Millionen unvorhergesehene Eingänge, 10 Mil¬
lionen an veranschlagten, aber nicht aufgebrauchten Ausgnbeposten früherer Jahre.
Das macht zusammen 522,5 Millionen Rubel, die über das Budget hinaus in die
Hand des Ministers geflossen sind und mit Ausnahme von 98 Millionen, die in
außerordentlichen Einnahmen für 1899 gebucht siud, unter dem nennen freier Bar¬
bestände außerhalb des Budgets auch verwandt wurden oder werden zu außer¬
ordentlichen Ausgaben. Budgetmäßig sind all außerordentlichen Ausgabe» eingestellt
109 Millionen. Für 1893 ist also aus jenen Barbeständen zu außerordentliche»


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[0289] Maßgebliches und Unmaßgebliches So nach und nach hatte sich ganz Senkenbergs ein angenehmes Interesse für Stadels Lenkbaren bemächtigt; in den Kneipen sprachen sie von ihm, in den Kaffee¬ gesellschaften schüttelten sie die Köpfe und bedauerten die arme Person, die Schneiderin, die soviel Last mit ihrem verdrehten Mannsvolk habe, Ackermanns Wiese lag zwar weit draußen, aber für einen Feierabendspaziergang immerhin noch erreichbar. Wer seiner Gesundheit Bewegung gönnte, lief Heuer auf die Buschwiese hinaus. Es wird natürlich wieder nichts, sprach Hinz zu Kunz, denn die Naturgesetze kann man nicht weglöschen wie falsche Exempel von der Schiefertafel, aber die Zunft der Narren ist groß, seitdem sich der erste die Schellenkappe über die Ohren gezogen hat. Und Kunz rechnete Hinz vor, was seit hundert Jahren für reale Werte, Stücke unersetzlichen Volksvermögens verprobiert und in die Luft gejagt worden seien. Seine Wahrscheinlichkeitsrechnung brachte eine abenteuerliche Summe zusammen, und je größer die wurde, desto lustiger wuchs auch die Narrenkappe, die auf dein Haupte der Stadels und Nothnagels saß. (Fortsetzung folgt) Maßgebliches und Unmaßgebliches Das russische Budget für 1899 und die russische Dorfverfassung. Herr Witte hat schon oft und viele Leute in Erstaunen gesetzt; er übertrifft sich aber selbst in dem am 1. Januar a. Se. publizierten Budget für 1399 und dem daran geknüpften Rechenschaftsbericht. Das Budget schwebt mit rund 1572 Millionen Rubeln in Einnahme und Ausgabe, um 97 Millionen mehr als im Vorjahre. Um diese Höhe der Einnahme zu erreichen, bedarf der Münster keiner neuen Anleihen; vielmehr hat er im vorigen Jahre über die budgetmäßigen Anschläge hinaus noch der Reichsbank 75 Millionen übergeben können, hat für das Gebiet des Notstands 35 Millionen ausgesetzt, hat 90 Millionen für Schiffsbauteu gefunden, hat 83 Millionen verwandt für Schulden¬ tilgung, Darlehen an Eisenbahnen n. a. in., und hat doch am 1. Januar 1899 einen Einnahmerest von 115 Millionen in der Hand behalten, rin dem die außer¬ ordentlichen Ausgaben des laufenden Jahres voll gedeckt werden sollen. Woher sind diese Summen um geflossen? Am 1. Januar 1898 befand sich in der Reichs- rentei ein verfügbarer Barbestand von 214,7 Millionen; in den ersten elf Monaten 1898 überstiegen die ordentlichen Einnahmen die Anschläge des Budgets um 212,5 Millionen; dazu kamen 83 Millionen unvorhergesehene Eingänge, 10 Mil¬ lionen an veranschlagten, aber nicht aufgebrauchten Ausgnbeposten früherer Jahre. Das macht zusammen 522,5 Millionen Rubel, die über das Budget hinaus in die Hand des Ministers geflossen sind und mit Ausnahme von 98 Millionen, die in außerordentlichen Einnahmen für 1899 gebucht siud, unter dem nennen freier Bar¬ bestände außerhalb des Budgets auch verwandt wurden oder werden zu außer¬ ordentlichen Ausgaben. Budgetmäßig sind all außerordentlichen Ausgabe» eingestellt 109 Millionen. Für 1893 ist also aus jenen Barbeständen zu außerordentliche» Grenzboten I 139» 3ö

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/289>, abgerufen am 03.07.2024.