Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.Die Gedichte Michelangelos S62 die vom Himmel stammende Kunst mir Aug und Ohr gegeben ist, wenn ich Schon lief mein Lebensschiff mit schwankem Mast Durch Sturmeswogcn ein in jenen Port, Dahin die Menschen steuern fort und fort Zur Rechnungslegung aller Sündenlast. Nun seh ichs wohl, wie du gegaukelt hast, Wahnphantasie, da zum Idol und Hort Du Kunst mir gabst, und wie die Gnadenpfort Sich jeder schließt und Schlimmes gern erfaßt! Was soll mir nun der Liebe eitler Scherz? Ich nahe mich dem Tod, der zwiefach richtet! Hier kommt er sicher . . . hat er dort Erbarmen? Nicht Stift, nicht Meißel stillen mir das Herz, Das sich zu jener Gottesliebe flüchtet, Die uns am Kreuz empfängt mit offnen Armen. Dieses Sonett schrieb der Achtzigjährige im reuevollen Rückblick auf sein Leben, Die Gedichte Michelangelos S62 die vom Himmel stammende Kunst mir Aug und Ohr gegeben ist, wenn ich Schon lief mein Lebensschiff mit schwankem Mast Durch Sturmeswogcn ein in jenen Port, Dahin die Menschen steuern fort und fort Zur Rechnungslegung aller Sündenlast. Nun seh ichs wohl, wie du gegaukelt hast, Wahnphantasie, da zum Idol und Hort Du Kunst mir gabst, und wie die Gnadenpfort Sich jeder schließt und Schlimmes gern erfaßt! Was soll mir nun der Liebe eitler Scherz? Ich nahe mich dem Tod, der zwiefach richtet! Hier kommt er sicher . . . hat er dort Erbarmen? Nicht Stift, nicht Meißel stillen mir das Herz, Das sich zu jener Gottesliebe flüchtet, Die uns am Kreuz empfängt mit offnen Armen. Dieses Sonett schrieb der Achtzigjährige im reuevollen Rückblick auf sein Leben, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0570" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/228872"/> <fw type="header" place="top"> Die Gedichte Michelangelos</fw><lb/> </div> <div n="1"> <head> S62</head><lb/> <p xml:id="ID_1956" prev="#ID_1955"> die vom Himmel stammende Kunst mir Aug und Ohr gegeben ist, wenn ich<lb/> für sie geboren bin und nicht anders kann, als für sie erglühn, so trägt der<lb/> die Schuld, der mich zur Glut erschaffen hat. Das sind Gedichte aus einer<lb/> frühern Zeit; nur um so mehr sind sie ein Zeugnis, von welcher Art die<lb/> Liebe war, von der Michelangelos Gedichte erfüllt sind. In dem Sonett,<lb/> das er im Jahre 1554 an Vasari sandte, spricht er geradezu das letzte Wort<lb/> seiner Liebespoesie aus: Die Kunst ist der wahre Herrscher und Abgott, iäolo<lb/> v wovÄrog,, seiner Seele gewesen.</p><lb/> <lg xml:id="POEMID_11" type="poem"> <l> Schon lief mein Lebensschiff mit schwankem Mast<lb/> Durch Sturmeswogcn ein in jenen Port,<lb/> Dahin die Menschen steuern fort und fort<lb/> Zur Rechnungslegung aller Sündenlast.</l> <l> Nun seh ichs wohl, wie du gegaukelt hast,<lb/> Wahnphantasie, da zum Idol und Hort<lb/> Du Kunst mir gabst, und wie die Gnadenpfort<lb/> Sich jeder schließt und Schlimmes gern erfaßt!</l> <l> Was soll mir nun der Liebe eitler Scherz?<lb/> Ich nahe mich dem Tod, der zwiefach richtet!<lb/> Hier kommt er sicher . . . hat er dort Erbarmen?</l> <l> Nicht Stift, nicht Meißel stillen mir das Herz,<lb/> Das sich zu jener Gottesliebe flüchtet,<lb/> Die uns am Kreuz empfängt mit offnen Armen.</l> </lg><lb/> <p xml:id="ID_1957" next="#ID_1958"> Dieses Sonett schrieb der Achtzigjährige im reuevollen Rückblick auf sein Leben,<lb/> da er seine Ideale als eine Verirrung, seinen Glauben an die Kunst als<lb/> Götzendienst, als einen hinter ihm liegenden Wahn der Phantasie beklagte.<lb/> Die Äworosi xen8i'«zri der frühern Jahre hat er mit dem amor clivwo ver¬<lb/> tauscht, nachdem er die Gewißheit gewonnen hat, daß Malen und Meißeln<lb/> der Seele keinen Frieden schafft. Doch während des innern Kampfes, der<lb/> dieser letzten Wendung vorausging, hat er ganz andre Stimmungen gehabt.<lb/> Auch dem Greis, hatte er ausgerufen (CXIII), ist es keine Schande, eine gött¬<lb/> liche Sache, ein Werk der Natur zu lieben, vielmehr durchdringt ihn die Liebe<lb/> mit frischer Jugendkraft, erneut, entflammt, erheitert seine Seele. Und in<lb/> einem Sonettenfragment (QXI.I): Wozu spornt mich der Zauber schöner Züge<lb/> — denn nichts lieberes weiß ich mir von Erdendingen —, wozu anders, als<lb/> um noch lebend zu höhern Geistern mich zu schwingen, durch die Gnade des<lb/> Höchsten! Wenn sich (VX^VI) zwischen den Dichter und sein „Idol" des<lb/> Todes Bild erschreckend stellt, so weiß Amor unbesiegt sein gutes Recht zu<lb/> verteidigen: Durch die Liebe in Brand gesetzt und mit der Kraft des Magnets<lb/> vom liebenden Herzen angezogen wird die Seele, wie im Feuer geläutert, zu<lb/> Gott zurückkehren. Wie kann mich einst Strafe erwarten, wenn es doch in</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0570]
Die Gedichte Michelangelos
S62
die vom Himmel stammende Kunst mir Aug und Ohr gegeben ist, wenn ich
für sie geboren bin und nicht anders kann, als für sie erglühn, so trägt der
die Schuld, der mich zur Glut erschaffen hat. Das sind Gedichte aus einer
frühern Zeit; nur um so mehr sind sie ein Zeugnis, von welcher Art die
Liebe war, von der Michelangelos Gedichte erfüllt sind. In dem Sonett,
das er im Jahre 1554 an Vasari sandte, spricht er geradezu das letzte Wort
seiner Liebespoesie aus: Die Kunst ist der wahre Herrscher und Abgott, iäolo
v wovÄrog,, seiner Seele gewesen.
Schon lief mein Lebensschiff mit schwankem Mast
Durch Sturmeswogcn ein in jenen Port,
Dahin die Menschen steuern fort und fort
Zur Rechnungslegung aller Sündenlast. Nun seh ichs wohl, wie du gegaukelt hast,
Wahnphantasie, da zum Idol und Hort
Du Kunst mir gabst, und wie die Gnadenpfort
Sich jeder schließt und Schlimmes gern erfaßt! Was soll mir nun der Liebe eitler Scherz?
Ich nahe mich dem Tod, der zwiefach richtet!
Hier kommt er sicher . . . hat er dort Erbarmen? Nicht Stift, nicht Meißel stillen mir das Herz,
Das sich zu jener Gottesliebe flüchtet,
Die uns am Kreuz empfängt mit offnen Armen.
Dieses Sonett schrieb der Achtzigjährige im reuevollen Rückblick auf sein Leben,
da er seine Ideale als eine Verirrung, seinen Glauben an die Kunst als
Götzendienst, als einen hinter ihm liegenden Wahn der Phantasie beklagte.
Die Äworosi xen8i'«zri der frühern Jahre hat er mit dem amor clivwo ver¬
tauscht, nachdem er die Gewißheit gewonnen hat, daß Malen und Meißeln
der Seele keinen Frieden schafft. Doch während des innern Kampfes, der
dieser letzten Wendung vorausging, hat er ganz andre Stimmungen gehabt.
Auch dem Greis, hatte er ausgerufen (CXIII), ist es keine Schande, eine gött¬
liche Sache, ein Werk der Natur zu lieben, vielmehr durchdringt ihn die Liebe
mit frischer Jugendkraft, erneut, entflammt, erheitert seine Seele. Und in
einem Sonettenfragment (QXI.I): Wozu spornt mich der Zauber schöner Züge
— denn nichts lieberes weiß ich mir von Erdendingen —, wozu anders, als
um noch lebend zu höhern Geistern mich zu schwingen, durch die Gnade des
Höchsten! Wenn sich (VX^VI) zwischen den Dichter und sein „Idol" des
Todes Bild erschreckend stellt, so weiß Amor unbesiegt sein gutes Recht zu
verteidigen: Durch die Liebe in Brand gesetzt und mit der Kraft des Magnets
vom liebenden Herzen angezogen wird die Seele, wie im Feuer geläutert, zu
Gott zurückkehren. Wie kann mich einst Strafe erwarten, wenn es doch in
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