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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Die Gedichte Michelangelos

mit begeisterter Liebe bewunderte. "Wie die Bienen Honig aus den Blumen
sangen, sucht er im weiten Gebiet der Natur das Schöne, um es in seinen
Werken wiederzugeben." Wo immer ihm das Schöne auffällig entgegentritt,
ist er davon ergriffen, ohne daß wir genötigt sind, besondre Herzensverhältnisse
dabei vorauszusetzen. Er wird von Liebe zu einem schönen Gegenstand er¬
griffen, aber er liebt in ihm das, was in allem Schönen dasselbe ist, was
sich in tausend Gestalten immer wieder neu verkörpert. Ähnliches ist uns
selbst bei den Gedichten für Cavalieri aufgestoßen. So leidenschaftlichen
Charakter dieses Verhältnis trägt, so ist sich doch der Dichter bewußt oder
halbbewußt, daß er im Grunde nicht diesen Freund liebt, sondern ein Ideal,
das er sich von ihm gemacht hat. "Ihr seid schon tausendmal in der Welt
gewesen" -- so unpersönlich ist zuletzt das, was der Dichter am Freunde
liebt. Unter diesen Gesichtspunkt wird man auch die erotische Poesie des
höchsten Alters stellen dürfen. Auch noch in dem Greise lodert ein ins^ii^dit
luve,", ist Amor nicht zu vertreiben, wird die Licbesempfindung durch tausend
schöne Gegenstände erregt: sie ist ihm ein Gleichnis für seine unauslöschliche
Liebe zum Schönen überhaupt. Ihm, dem Künstler ist es ein Bedürfnis, dem,
was ihn heftig bewegt, Gestalt zu leihen, es sich als Person vorzustellen, deren
Macht er an sich empfindet. Und so existirt denn die äormg. della s eruävls
wohl nur in der Einbildung des Dichters. Aber sie ist mehr als bloße Alle¬
gorie. Er braucht sie, die Personifikation ist ihm ein Bedürfnis seiner Natur.
Der Gott, der ihn im Alter noch bedrängt, der ihm keine Ruhe läßt, der
ihm Schmerzen bereitet wie einem Liebhaber, ist das künstlerische Ideal, das
ihm zeitlebens die Seele erfüllt hat, und das jetzt durch ein aufsteigendes
Gefühl von Schuld und Sünde erschüttert wird. Im Bilde der Geliebten
erscheint ihm die Idee des Schönen, an deren Wahrheit ihn die drohenden
Todesgedanken zweifeln und schließlich verzweifeln machen.

Vasari erzählt die Anekdote: Ans die Frage, warum er kein Weib ge¬
nommen, habe Michelangelo zur Antwort gegeben: "Nur zu sehr habe ich ein
Weib, das mir immer zu schaffen macht, nämlich diese Kunst, und meine
Kinder sind die Werke, die ich zurücklasse." Der Gedanke, daß die wahre
Geliebte Michelangelos seine Kunst gewesen sei. ist auch aus manchen Gedichten
herauszulesen. Nichts andres will der Schluß von Sonett VIX, 92 besagen:
Nach tausend Jahren noch wird das Kunstwerk ein Zeugnis für die echte Liebe
des Künstlers sein. Der Dichter erscheint nirgends größer als in den seltnen
Füllen, wo er jene künstliche Einkleidung seiner Selbstgespräche verschmäht
und abgestreift hat, wenn er ohne jene Maske die Schönheit geradezu als den
Quell seiner künstlerischen Thätigkeit feiert. So in dem Madrigal 0IV: Als
Spiegel und Leuchte für seinen Beruf ist ihm bei seiner Geburt die Schönheit
gegeben worden; sie allein hebt das Auge zu der hohen Welt, die er in Farben
und in Stein darzustellen trachtet. Und in dem Sonett "IX, 94: Wenn für


Grenzboten III 1808 71
Die Gedichte Michelangelos

mit begeisterter Liebe bewunderte. „Wie die Bienen Honig aus den Blumen
sangen, sucht er im weiten Gebiet der Natur das Schöne, um es in seinen
Werken wiederzugeben." Wo immer ihm das Schöne auffällig entgegentritt,
ist er davon ergriffen, ohne daß wir genötigt sind, besondre Herzensverhältnisse
dabei vorauszusetzen. Er wird von Liebe zu einem schönen Gegenstand er¬
griffen, aber er liebt in ihm das, was in allem Schönen dasselbe ist, was
sich in tausend Gestalten immer wieder neu verkörpert. Ähnliches ist uns
selbst bei den Gedichten für Cavalieri aufgestoßen. So leidenschaftlichen
Charakter dieses Verhältnis trägt, so ist sich doch der Dichter bewußt oder
halbbewußt, daß er im Grunde nicht diesen Freund liebt, sondern ein Ideal,
das er sich von ihm gemacht hat. „Ihr seid schon tausendmal in der Welt
gewesen" — so unpersönlich ist zuletzt das, was der Dichter am Freunde
liebt. Unter diesen Gesichtspunkt wird man auch die erotische Poesie des
höchsten Alters stellen dürfen. Auch noch in dem Greise lodert ein ins^ii^dit
luve,«, ist Amor nicht zu vertreiben, wird die Licbesempfindung durch tausend
schöne Gegenstände erregt: sie ist ihm ein Gleichnis für seine unauslöschliche
Liebe zum Schönen überhaupt. Ihm, dem Künstler ist es ein Bedürfnis, dem,
was ihn heftig bewegt, Gestalt zu leihen, es sich als Person vorzustellen, deren
Macht er an sich empfindet. Und so existirt denn die äormg. della s eruävls
wohl nur in der Einbildung des Dichters. Aber sie ist mehr als bloße Alle¬
gorie. Er braucht sie, die Personifikation ist ihm ein Bedürfnis seiner Natur.
Der Gott, der ihn im Alter noch bedrängt, der ihm keine Ruhe läßt, der
ihm Schmerzen bereitet wie einem Liebhaber, ist das künstlerische Ideal, das
ihm zeitlebens die Seele erfüllt hat, und das jetzt durch ein aufsteigendes
Gefühl von Schuld und Sünde erschüttert wird. Im Bilde der Geliebten
erscheint ihm die Idee des Schönen, an deren Wahrheit ihn die drohenden
Todesgedanken zweifeln und schließlich verzweifeln machen.

Vasari erzählt die Anekdote: Ans die Frage, warum er kein Weib ge¬
nommen, habe Michelangelo zur Antwort gegeben: „Nur zu sehr habe ich ein
Weib, das mir immer zu schaffen macht, nämlich diese Kunst, und meine
Kinder sind die Werke, die ich zurücklasse." Der Gedanke, daß die wahre
Geliebte Michelangelos seine Kunst gewesen sei. ist auch aus manchen Gedichten
herauszulesen. Nichts andres will der Schluß von Sonett VIX, 92 besagen:
Nach tausend Jahren noch wird das Kunstwerk ein Zeugnis für die echte Liebe
des Künstlers sein. Der Dichter erscheint nirgends größer als in den seltnen
Füllen, wo er jene künstliche Einkleidung seiner Selbstgespräche verschmäht
und abgestreift hat, wenn er ohne jene Maske die Schönheit geradezu als den
Quell seiner künstlerischen Thätigkeit feiert. So in dem Madrigal 0IV: Als
Spiegel und Leuchte für seinen Beruf ist ihm bei seiner Geburt die Schönheit
gegeben worden; sie allein hebt das Auge zu der hohen Welt, die er in Farben
und in Stein darzustellen trachtet. Und in dem Sonett «IX, 94: Wenn für


Grenzboten III 1808 71
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[0569] Die Gedichte Michelangelos mit begeisterter Liebe bewunderte. „Wie die Bienen Honig aus den Blumen sangen, sucht er im weiten Gebiet der Natur das Schöne, um es in seinen Werken wiederzugeben." Wo immer ihm das Schöne auffällig entgegentritt, ist er davon ergriffen, ohne daß wir genötigt sind, besondre Herzensverhältnisse dabei vorauszusetzen. Er wird von Liebe zu einem schönen Gegenstand er¬ griffen, aber er liebt in ihm das, was in allem Schönen dasselbe ist, was sich in tausend Gestalten immer wieder neu verkörpert. Ähnliches ist uns selbst bei den Gedichten für Cavalieri aufgestoßen. So leidenschaftlichen Charakter dieses Verhältnis trägt, so ist sich doch der Dichter bewußt oder halbbewußt, daß er im Grunde nicht diesen Freund liebt, sondern ein Ideal, das er sich von ihm gemacht hat. „Ihr seid schon tausendmal in der Welt gewesen" — so unpersönlich ist zuletzt das, was der Dichter am Freunde liebt. Unter diesen Gesichtspunkt wird man auch die erotische Poesie des höchsten Alters stellen dürfen. Auch noch in dem Greise lodert ein ins^ii^dit luve,«, ist Amor nicht zu vertreiben, wird die Licbesempfindung durch tausend schöne Gegenstände erregt: sie ist ihm ein Gleichnis für seine unauslöschliche Liebe zum Schönen überhaupt. Ihm, dem Künstler ist es ein Bedürfnis, dem, was ihn heftig bewegt, Gestalt zu leihen, es sich als Person vorzustellen, deren Macht er an sich empfindet. Und so existirt denn die äormg. della s eruävls wohl nur in der Einbildung des Dichters. Aber sie ist mehr als bloße Alle¬ gorie. Er braucht sie, die Personifikation ist ihm ein Bedürfnis seiner Natur. Der Gott, der ihn im Alter noch bedrängt, der ihm keine Ruhe läßt, der ihm Schmerzen bereitet wie einem Liebhaber, ist das künstlerische Ideal, das ihm zeitlebens die Seele erfüllt hat, und das jetzt durch ein aufsteigendes Gefühl von Schuld und Sünde erschüttert wird. Im Bilde der Geliebten erscheint ihm die Idee des Schönen, an deren Wahrheit ihn die drohenden Todesgedanken zweifeln und schließlich verzweifeln machen. Vasari erzählt die Anekdote: Ans die Frage, warum er kein Weib ge¬ nommen, habe Michelangelo zur Antwort gegeben: „Nur zu sehr habe ich ein Weib, das mir immer zu schaffen macht, nämlich diese Kunst, und meine Kinder sind die Werke, die ich zurücklasse." Der Gedanke, daß die wahre Geliebte Michelangelos seine Kunst gewesen sei. ist auch aus manchen Gedichten herauszulesen. Nichts andres will der Schluß von Sonett VIX, 92 besagen: Nach tausend Jahren noch wird das Kunstwerk ein Zeugnis für die echte Liebe des Künstlers sein. Der Dichter erscheint nirgends größer als in den seltnen Füllen, wo er jene künstliche Einkleidung seiner Selbstgespräche verschmäht und abgestreift hat, wenn er ohne jene Maske die Schönheit geradezu als den Quell seiner künstlerischen Thätigkeit feiert. So in dem Madrigal 0IV: Als Spiegel und Leuchte für seinen Beruf ist ihm bei seiner Geburt die Schönheit gegeben worden; sie allein hebt das Auge zu der hohen Welt, die er in Farben und in Stein darzustellen trachtet. Und in dem Sonett «IX, 94: Wenn für Grenzboten III 1808 71

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/569>, abgerufen am 27.07.2024.