Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.Rechtsxhilosophische Phantasien eines Laien Zuerst sind die meisten Grundsätze unausgesprochen; sast unbewußt 2 Der Begriff "Strafe" setzt die Erziehungsfähigkeit des Menschen zum Rechtsxhilosophische Phantasien eines Laien Zuerst sind die meisten Grundsätze unausgesprochen; sast unbewußt 2 Der Begriff „Strafe" setzt die Erziehungsfähigkeit des Menschen zum <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0021" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/228323"/> <fw type="header" place="top"> Rechtsxhilosophische Phantasien eines Laien</fw><lb/> <p xml:id="ID_42"> Zuerst sind die meisten Grundsätze unausgesprochen; sast unbewußt<lb/> werden sie am besten aus Beispielen gelernt, sie können auch so wirksam für<lb/> das Handeln sein und bleiben, wenn sie immer gewohnheitsmäßig bethätigt<lb/> werden. Wie viel Grundsätze und Vorsätze werden dagegen mit dem Munde<lb/> ausgesprochen, ohne daß man je die zur Bethätigung nötige Stärke gewinnt.<lb/> Erst in Anfechtungen und Kämpfen gelangen die unbewußten zur bewußten<lb/> Klarheit, dann erst entsteht der gereifte Charakter, der die eigne Stärke, d. h.<lb/> sich selber kennt. Dadurch, daß die Grundsätze nicht nur „auswendig" ge¬<lb/> lernt, sondern im Innern erlebt und erkämpft sind, sind sie dauerhaft und<lb/> unbeugsam. Wohlfahrt sagt in „Soll und Haben" nach seiner Rückkehr zu<lb/> dem Kaufmann: „Wenn ich etwas aus einem Jahr voll Kränkungen und<lb/> bitterer Gefühle gerettet habe, so ist es gerade der Stolz, daß ich geprüft<lb/> worden bin, und daß ich nicht mehr wie ein Knabe aus Instinkt und Gewohn¬<lb/> heit handle, sondern als ein Mann nach Grundsätzen. Ich habe in diesem<lb/> Jahre zu mir ein Vertrauen gewonnen, das ich früher nicht hatte." Er ist<lb/> ein Mann, d. h. ein gereifter Charakter geworden.</p><lb/> </div> <div n="2"> <head> 2</head><lb/> <p xml:id="ID_43"> Der Begriff „Strafe" setzt die Erziehungsfähigkeit des Menschen zum<lb/> Sozialwesen voraus, nur daraus kann die Strafe gerechtfertigt werden, andern¬<lb/> falls wäre sie eine Rache oder eine Vergeltung. Wir brauchen für die Ver¬<lb/> suchung zum Unrecht ein Gegengewicht, und dieses Gegengewicht ist eben die<lb/> Vorstellung der Strafe. Können wir somit die Strafe nur aus der so oft<lb/> angegriffnen, aber auch von Schopenhauer anerkannten Abschreckungstheorie<lb/> rechtfertigen, so ist dabei doch eine grundsätzliche Einschränkung notwendig.<lb/> An sich würde die Abschreckung natürlich am besten durch möglichst hohe<lb/> Strafen erreicht werden, aber dem Menschen sollen doch nicht größere Leiden<lb/> um seines Fehis halber auferlegt werden, als die Aufrechterhaltung des<lb/> Staates und der geordneten Gesellschaft notwendig machen. Der Mensch ist<lb/> auch als Verbrecher nicht nur Zweck für andre, sondern hat seine eigne Be¬<lb/> stimmung. Es zeigt sich hier, daß der gesellschaftliche Zustand der höhere ist,<lb/> der mit mildern Strafen auskommt. Das entspricht auch der geschichtlichen<lb/> Entwicklung: auf Drako folgt Solon. Der Staat straft nicht den bösen<lb/> Charakter an sich, sondern die Einzelhandlung, und zwar nach ihrer gesell¬<lb/> schaftlichen Schädlichkeit. Ursprünglich ist es allein Sache des Sittengesetzes,<lb/> zu gebieten: „Laß dich nicht gelüsten" und „Du sollst lieben"; die Fassung des<lb/> Strafgesetzes in normaler Form lautet: „Wer das und das thut, wird so und<lb/> so bestraft," d. h. es wird der Handlung eine Folge gesetzt, die nach dem<lb/> „Milieu" — der Kulturstufe kann man auch sagen — der Gesellschaft als<lb/> Psychologisches Gegengewicht gegen die durch das Unrecht angestrebten Vorteile<lb/> dienen kann.</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0021]
Rechtsxhilosophische Phantasien eines Laien
Zuerst sind die meisten Grundsätze unausgesprochen; sast unbewußt
werden sie am besten aus Beispielen gelernt, sie können auch so wirksam für
das Handeln sein und bleiben, wenn sie immer gewohnheitsmäßig bethätigt
werden. Wie viel Grundsätze und Vorsätze werden dagegen mit dem Munde
ausgesprochen, ohne daß man je die zur Bethätigung nötige Stärke gewinnt.
Erst in Anfechtungen und Kämpfen gelangen die unbewußten zur bewußten
Klarheit, dann erst entsteht der gereifte Charakter, der die eigne Stärke, d. h.
sich selber kennt. Dadurch, daß die Grundsätze nicht nur „auswendig" ge¬
lernt, sondern im Innern erlebt und erkämpft sind, sind sie dauerhaft und
unbeugsam. Wohlfahrt sagt in „Soll und Haben" nach seiner Rückkehr zu
dem Kaufmann: „Wenn ich etwas aus einem Jahr voll Kränkungen und
bitterer Gefühle gerettet habe, so ist es gerade der Stolz, daß ich geprüft
worden bin, und daß ich nicht mehr wie ein Knabe aus Instinkt und Gewohn¬
heit handle, sondern als ein Mann nach Grundsätzen. Ich habe in diesem
Jahre zu mir ein Vertrauen gewonnen, das ich früher nicht hatte." Er ist
ein Mann, d. h. ein gereifter Charakter geworden.
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Der Begriff „Strafe" setzt die Erziehungsfähigkeit des Menschen zum
Sozialwesen voraus, nur daraus kann die Strafe gerechtfertigt werden, andern¬
falls wäre sie eine Rache oder eine Vergeltung. Wir brauchen für die Ver¬
suchung zum Unrecht ein Gegengewicht, und dieses Gegengewicht ist eben die
Vorstellung der Strafe. Können wir somit die Strafe nur aus der so oft
angegriffnen, aber auch von Schopenhauer anerkannten Abschreckungstheorie
rechtfertigen, so ist dabei doch eine grundsätzliche Einschränkung notwendig.
An sich würde die Abschreckung natürlich am besten durch möglichst hohe
Strafen erreicht werden, aber dem Menschen sollen doch nicht größere Leiden
um seines Fehis halber auferlegt werden, als die Aufrechterhaltung des
Staates und der geordneten Gesellschaft notwendig machen. Der Mensch ist
auch als Verbrecher nicht nur Zweck für andre, sondern hat seine eigne Be¬
stimmung. Es zeigt sich hier, daß der gesellschaftliche Zustand der höhere ist,
der mit mildern Strafen auskommt. Das entspricht auch der geschichtlichen
Entwicklung: auf Drako folgt Solon. Der Staat straft nicht den bösen
Charakter an sich, sondern die Einzelhandlung, und zwar nach ihrer gesell¬
schaftlichen Schädlichkeit. Ursprünglich ist es allein Sache des Sittengesetzes,
zu gebieten: „Laß dich nicht gelüsten" und „Du sollst lieben"; die Fassung des
Strafgesetzes in normaler Form lautet: „Wer das und das thut, wird so und
so bestraft," d. h. es wird der Handlung eine Folge gesetzt, die nach dem
„Milieu" — der Kulturstufe kann man auch sagen — der Gesellschaft als
Psychologisches Gegengewicht gegen die durch das Unrecht angestrebten Vorteile
dienen kann.
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