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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Rechtsphilosophische Phantasien eines Laien

Wenn zugleich mit der Folge auch noch die Wirkung verknüpft wird,
daß der Verbrecher gebessert, also eine Wiederholung durch denselben Menschen
unwahrscheinlich oder ausgeschlossen wird, so ist das natürlich das beste. Ein
moralischer Fortschritt der Menschheit kann am besten aus der Geschichte des
Strafrechts nachgewiesen werden, er ist aber auch notwendig: das immer engere
Zusammenwohnen der Menschen macht eine wachsende Verträglichkeit nötig.
In den verschiednen Gesetzgebungen findet man das getreue Spiegelbild der
Zivilisation, den Niederschlag aus den gesamten sittlichen und rechtlichen An¬
schauungen einer Zeit und eines Volkes. Handlungen oder Unterlassungen,
die in frühern Zuständen verdienstlich erscheinen, werden später gesetzlich ge¬
fordert, andre, die früher zulässig waren, werden unter Strafe gestellt; eine
Erhöhung des sittlichen Maßstabs ist dabei nicht zu verkennen. Dazu gehört
auch, daß positive sittliche Gebote, die anfänglich dem religiösen Gebiet an"
gehörten, mit der Zeit in das Strafgesetz eindringen, wie z. B. in dem Begriff
der strafbaren Fahrlässigkeit und im Z 221 die gebotne Fürsorge. Das Un¬
recht muß immer feiner und raffinirter werden, um nicht dem Strafgesetz zu
verfallen, eine bekannte Erscheinung hoher Kulturen.

Die germanische Rechtsauffassung zeigt sich gerade in der Forderung
positiver Leistungen für andre von Haus aus höher stehend als die römische;
die Entwicklung des germanischen Rechts wird daher voraussichtlich viel
zukunftsreicher werden und zu höhern Kulturstufen führen, als es das römische
Recht vermochte. Das römische Recht geht von der abstrakten Gleichheit und
völligen Freiheit der Einzelnen aus, die einander fremd und pflichtlos gegen¬
überstehen. Nach germanischer Auffassung ist jedes Recht ein von Gott ver¬
liehenes Amt, mit dem entsprechende Pflichten verknüpft sind; germanisches
Recht verlangt gegenseitige Hilfe und Förderung in allem Ehrbaren und Nütz¬
lichen. Das römische Recht ist negativ, es entspricht vortrefflich dem profit¬
wütigen Manchestertum, das deutsche in seiner positiven Anschauung entspricht
dem sozialrechtlichen Kulturstaat. Die Rezeption des römischen Rechts war
vielleicht eine Notwendigkeit, aber es ist als eine Stufe anzusehen, über die
hinauszuschreiten wir jetzt im Begriff stehen.

Die Festsetzung der Strafen entsteht also aus verschiednen Erwägungen,
die aber alle in dem Zustande der Gesellschaft wurzeln. Die Gesellschaft will
und muß sich gegen den Egoismus der Einzelnen aufrecht erhalten; der Staat
hat dem Einzelnen die ursprünglich übliche Vergeltung aus der Hand ge¬
nommen und untersagt -- alles Strafrecht stammt aus der Blutrache --,
aber er hat dafür die Verpflichtung übernommen, nun seinerseits einen wirk¬
samen Schutz gegen rechtswidrige Verletzungen zu gewähren. Der Schutz der
Redlichen ist die wesentliche Aufgabe für die Bemessung der Strafe, wenn der
Staat den Verbrecher gegen die Rache des Beschuldigten in Schutz nimmt.
So hat der Staat die Aufgabe, nach beiden Seiten gerecht zu fein, in dem


Rechtsphilosophische Phantasien eines Laien

Wenn zugleich mit der Folge auch noch die Wirkung verknüpft wird,
daß der Verbrecher gebessert, also eine Wiederholung durch denselben Menschen
unwahrscheinlich oder ausgeschlossen wird, so ist das natürlich das beste. Ein
moralischer Fortschritt der Menschheit kann am besten aus der Geschichte des
Strafrechts nachgewiesen werden, er ist aber auch notwendig: das immer engere
Zusammenwohnen der Menschen macht eine wachsende Verträglichkeit nötig.
In den verschiednen Gesetzgebungen findet man das getreue Spiegelbild der
Zivilisation, den Niederschlag aus den gesamten sittlichen und rechtlichen An¬
schauungen einer Zeit und eines Volkes. Handlungen oder Unterlassungen,
die in frühern Zuständen verdienstlich erscheinen, werden später gesetzlich ge¬
fordert, andre, die früher zulässig waren, werden unter Strafe gestellt; eine
Erhöhung des sittlichen Maßstabs ist dabei nicht zu verkennen. Dazu gehört
auch, daß positive sittliche Gebote, die anfänglich dem religiösen Gebiet an»
gehörten, mit der Zeit in das Strafgesetz eindringen, wie z. B. in dem Begriff
der strafbaren Fahrlässigkeit und im Z 221 die gebotne Fürsorge. Das Un¬
recht muß immer feiner und raffinirter werden, um nicht dem Strafgesetz zu
verfallen, eine bekannte Erscheinung hoher Kulturen.

Die germanische Rechtsauffassung zeigt sich gerade in der Forderung
positiver Leistungen für andre von Haus aus höher stehend als die römische;
die Entwicklung des germanischen Rechts wird daher voraussichtlich viel
zukunftsreicher werden und zu höhern Kulturstufen führen, als es das römische
Recht vermochte. Das römische Recht geht von der abstrakten Gleichheit und
völligen Freiheit der Einzelnen aus, die einander fremd und pflichtlos gegen¬
überstehen. Nach germanischer Auffassung ist jedes Recht ein von Gott ver¬
liehenes Amt, mit dem entsprechende Pflichten verknüpft sind; germanisches
Recht verlangt gegenseitige Hilfe und Förderung in allem Ehrbaren und Nütz¬
lichen. Das römische Recht ist negativ, es entspricht vortrefflich dem profit¬
wütigen Manchestertum, das deutsche in seiner positiven Anschauung entspricht
dem sozialrechtlichen Kulturstaat. Die Rezeption des römischen Rechts war
vielleicht eine Notwendigkeit, aber es ist als eine Stufe anzusehen, über die
hinauszuschreiten wir jetzt im Begriff stehen.

Die Festsetzung der Strafen entsteht also aus verschiednen Erwägungen,
die aber alle in dem Zustande der Gesellschaft wurzeln. Die Gesellschaft will
und muß sich gegen den Egoismus der Einzelnen aufrecht erhalten; der Staat
hat dem Einzelnen die ursprünglich übliche Vergeltung aus der Hand ge¬
nommen und untersagt — alles Strafrecht stammt aus der Blutrache —,
aber er hat dafür die Verpflichtung übernommen, nun seinerseits einen wirk¬
samen Schutz gegen rechtswidrige Verletzungen zu gewähren. Der Schutz der
Redlichen ist die wesentliche Aufgabe für die Bemessung der Strafe, wenn der
Staat den Verbrecher gegen die Rache des Beschuldigten in Schutz nimmt.
So hat der Staat die Aufgabe, nach beiden Seiten gerecht zu fein, in dem


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[0022] Rechtsphilosophische Phantasien eines Laien Wenn zugleich mit der Folge auch noch die Wirkung verknüpft wird, daß der Verbrecher gebessert, also eine Wiederholung durch denselben Menschen unwahrscheinlich oder ausgeschlossen wird, so ist das natürlich das beste. Ein moralischer Fortschritt der Menschheit kann am besten aus der Geschichte des Strafrechts nachgewiesen werden, er ist aber auch notwendig: das immer engere Zusammenwohnen der Menschen macht eine wachsende Verträglichkeit nötig. In den verschiednen Gesetzgebungen findet man das getreue Spiegelbild der Zivilisation, den Niederschlag aus den gesamten sittlichen und rechtlichen An¬ schauungen einer Zeit und eines Volkes. Handlungen oder Unterlassungen, die in frühern Zuständen verdienstlich erscheinen, werden später gesetzlich ge¬ fordert, andre, die früher zulässig waren, werden unter Strafe gestellt; eine Erhöhung des sittlichen Maßstabs ist dabei nicht zu verkennen. Dazu gehört auch, daß positive sittliche Gebote, die anfänglich dem religiösen Gebiet an» gehörten, mit der Zeit in das Strafgesetz eindringen, wie z. B. in dem Begriff der strafbaren Fahrlässigkeit und im Z 221 die gebotne Fürsorge. Das Un¬ recht muß immer feiner und raffinirter werden, um nicht dem Strafgesetz zu verfallen, eine bekannte Erscheinung hoher Kulturen. Die germanische Rechtsauffassung zeigt sich gerade in der Forderung positiver Leistungen für andre von Haus aus höher stehend als die römische; die Entwicklung des germanischen Rechts wird daher voraussichtlich viel zukunftsreicher werden und zu höhern Kulturstufen führen, als es das römische Recht vermochte. Das römische Recht geht von der abstrakten Gleichheit und völligen Freiheit der Einzelnen aus, die einander fremd und pflichtlos gegen¬ überstehen. Nach germanischer Auffassung ist jedes Recht ein von Gott ver¬ liehenes Amt, mit dem entsprechende Pflichten verknüpft sind; germanisches Recht verlangt gegenseitige Hilfe und Förderung in allem Ehrbaren und Nütz¬ lichen. Das römische Recht ist negativ, es entspricht vortrefflich dem profit¬ wütigen Manchestertum, das deutsche in seiner positiven Anschauung entspricht dem sozialrechtlichen Kulturstaat. Die Rezeption des römischen Rechts war vielleicht eine Notwendigkeit, aber es ist als eine Stufe anzusehen, über die hinauszuschreiten wir jetzt im Begriff stehen. Die Festsetzung der Strafen entsteht also aus verschiednen Erwägungen, die aber alle in dem Zustande der Gesellschaft wurzeln. Die Gesellschaft will und muß sich gegen den Egoismus der Einzelnen aufrecht erhalten; der Staat hat dem Einzelnen die ursprünglich übliche Vergeltung aus der Hand ge¬ nommen und untersagt — alles Strafrecht stammt aus der Blutrache —, aber er hat dafür die Verpflichtung übernommen, nun seinerseits einen wirk¬ samen Schutz gegen rechtswidrige Verletzungen zu gewähren. Der Schutz der Redlichen ist die wesentliche Aufgabe für die Bemessung der Strafe, wenn der Staat den Verbrecher gegen die Rache des Beschuldigten in Schutz nimmt. So hat der Staat die Aufgabe, nach beiden Seiten gerecht zu fein, in dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/22>, abgerufen am 27.07.2024.