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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Rechtsphilosoxhische Phantasien eines Laien

ringsten Widerstandes äußern- So kommt es denn darauf an und ist die
Aufgabe der Erziehung, die nichtgewollten, weil schädlichen Richtungen recht¬
zeitig gehörig zu verbauen und den Trieb zum Handeln auf das Gute zu
richten. Unter den Erziehungsmitteln der Erwachsenen, also mittelbar auch
der Jugend nimmt ein Wohl überlegtes, dem allgemeinen Empfinden ent¬
sprechendes und gut abgestuftes Strafgesetz eine der ersten Stellen ein. Freilich
kann es nicht allein alles wirken, auch schon deshalb nicht, weil die Haupt¬
erziehung in der Kindheit und Jugend erfolgen muß. Es ist psychologisch
völlig gerechtfertigt, daß ein verurteilter Verbrecher unter dem Galgen zu
seinem Vater sagt: "Hüttest du mich in der Jugend angehalten, meinen Rock
ordentlich an den Nagel zu hängen, so stünde ich jetzt nicht hier." Daher
ist es tiefe Weisheit, daß die Sünden der Eltern heimgesucht werden sollen
an den Kindern.

Die Bildung des Charakters aus der Kraft der innern Antriebe läßt sich
nicht unpassend vergleichen mit der Wirkung des ausgestanden Wassers, das
einen Abfluß sucht. Zuerst sickert es tropfenweise in der Richtung des ge¬
ringsten Widerstandes dnrch, jeder Tropfen erweitert und ebnet den Weg und
räumt weitere Widerstände weg; weiter und tiefer wäscht das Wasser sich den
gewohnten Weg und strömt schließlich unaufhaltsam und unabänderlich im
tiefen Strombett dahin. Bei den Flüssen wie bei der Charakterbildung ver¬
langt die fortschreitende Zivilisation, der sie dienen sollen und müssen, ver¬
ständige und sachgemäße Regulirung.

Mit jeder That wirkt der Mensch nicht nur auf die Außenwelt, sondern
nach innen auf den eignen Charakter, indem er einer ähnlichen That die Wege
ebnet. Es ist wie beim Befahren eines nicht festen Wegs mit den Gleisen, jeder
einzelne Wagen drückt das Gleise tiefer ein, ein Verlassen dieses Gleises
wird immer schwerer und schließlich unmöglich. Daher sagt die Bibel: Wer
Sünde thut, der ist der Sünde Knecht! Und doch ist das einzige Mittel, aus
diesem gewohnten Gleise herauszukommen, jetzt und hier anders zu handeln,
mit der Gewohnheit zu brechen, jeder Aufschub erschwert den Vorsatz. Der
große Herzenskündiger Shakespeare läßt Hamlet zu seiner Mutter sprechen:


Nehmt eine Tugend an, die ihr nicht habt.
Der Teufel Angewöhnung, der des Bösen
Gefühl verschlingt, ist hierin Engel doch:
Er giebt der Übung schöner, guter Thaten
Nicht minder eine Kleidung oder Tracht,
Die gut sich anlegt. Seid zu Nacht enthaltsam,
Und das wird eine Art von Leichtigkeit
Der folgenden Enthaltung leihn; die nächste
Wird dann noch leichter: denn die Übung kann
Fast dus Gepräge der Natur verändern!
Sie zähmt den Teufel oder stöszt ihn aus
Mit wunderbarer Macht.

Rechtsphilosoxhische Phantasien eines Laien

ringsten Widerstandes äußern- So kommt es denn darauf an und ist die
Aufgabe der Erziehung, die nichtgewollten, weil schädlichen Richtungen recht¬
zeitig gehörig zu verbauen und den Trieb zum Handeln auf das Gute zu
richten. Unter den Erziehungsmitteln der Erwachsenen, also mittelbar auch
der Jugend nimmt ein Wohl überlegtes, dem allgemeinen Empfinden ent¬
sprechendes und gut abgestuftes Strafgesetz eine der ersten Stellen ein. Freilich
kann es nicht allein alles wirken, auch schon deshalb nicht, weil die Haupt¬
erziehung in der Kindheit und Jugend erfolgen muß. Es ist psychologisch
völlig gerechtfertigt, daß ein verurteilter Verbrecher unter dem Galgen zu
seinem Vater sagt: „Hüttest du mich in der Jugend angehalten, meinen Rock
ordentlich an den Nagel zu hängen, so stünde ich jetzt nicht hier." Daher
ist es tiefe Weisheit, daß die Sünden der Eltern heimgesucht werden sollen
an den Kindern.

Die Bildung des Charakters aus der Kraft der innern Antriebe läßt sich
nicht unpassend vergleichen mit der Wirkung des ausgestanden Wassers, das
einen Abfluß sucht. Zuerst sickert es tropfenweise in der Richtung des ge¬
ringsten Widerstandes dnrch, jeder Tropfen erweitert und ebnet den Weg und
räumt weitere Widerstände weg; weiter und tiefer wäscht das Wasser sich den
gewohnten Weg und strömt schließlich unaufhaltsam und unabänderlich im
tiefen Strombett dahin. Bei den Flüssen wie bei der Charakterbildung ver¬
langt die fortschreitende Zivilisation, der sie dienen sollen und müssen, ver¬
ständige und sachgemäße Regulirung.

Mit jeder That wirkt der Mensch nicht nur auf die Außenwelt, sondern
nach innen auf den eignen Charakter, indem er einer ähnlichen That die Wege
ebnet. Es ist wie beim Befahren eines nicht festen Wegs mit den Gleisen, jeder
einzelne Wagen drückt das Gleise tiefer ein, ein Verlassen dieses Gleises
wird immer schwerer und schließlich unmöglich. Daher sagt die Bibel: Wer
Sünde thut, der ist der Sünde Knecht! Und doch ist das einzige Mittel, aus
diesem gewohnten Gleise herauszukommen, jetzt und hier anders zu handeln,
mit der Gewohnheit zu brechen, jeder Aufschub erschwert den Vorsatz. Der
große Herzenskündiger Shakespeare läßt Hamlet zu seiner Mutter sprechen:


Nehmt eine Tugend an, die ihr nicht habt.
Der Teufel Angewöhnung, der des Bösen
Gefühl verschlingt, ist hierin Engel doch:
Er giebt der Übung schöner, guter Thaten
Nicht minder eine Kleidung oder Tracht,
Die gut sich anlegt. Seid zu Nacht enthaltsam,
Und das wird eine Art von Leichtigkeit
Der folgenden Enthaltung leihn; die nächste
Wird dann noch leichter: denn die Übung kann
Fast dus Gepräge der Natur verändern!
Sie zähmt den Teufel oder stöszt ihn aus
Mit wunderbarer Macht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/20>, abgerufen am 27.07.2024.