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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Was in Gstasien vorgeht

elche Mühe kostet es, dem deutschen Michel beizubringen, dnß er
seit 1870 in ein Alter gekommen sei, wo er sich nicht mehr die
Püffe und die Schelte der Großen gefallen zu lassen brauche!
Wie schwer wird es ihm, die gewohnten Kinderschuhe und die
Nachtmütze des alten Bundestages zu vergessen, wie schwer, den
Nacken steif zu halten, wenn er sich den ältern Kameraden fremden Stammes
gegenüber sieht! Seit dreißig Jahren arbeiten Lehrer und Erfahrung an ihm
herum, aber nur strampelnd und weinerlich ließ er sich bewegen, übers Meer
zu gehen nach eignen Kolonien, oder sich eine Flotte zu bauen, die, wie er
fürchtete, ihn in allerlei Welthändel verwickeln könnte. Wie wohlgefällig nahm
er die Versicherung auf, daß Deutschland nun gesättigt sei, als er den Helgo-
länder Stein verschluckt hatte, und wie viele unsrer Volkshelden erschraken,
als sie dann später aus demselben Munde die andre Versicherung hörten, daß
wir eine Weltmacht sein oder werden müßten! Die Kinderstube mit dem
netten politischen Puppen- und Parlamentchenspiel und dem gemütlichen
Deutschlandsgarten daran, wo wir uns so schön unter einander prügeln dürfen,
ohne daß einer der "Großen" uns mehr, wie ehedem, dreinreden darf -- es
ist so schön! und weshalb sollen wir hinaus in die böse Welt, weshalb wetten
und wagen, wenn meins daheim so gut hat und, Gott sei Dank, der Tisch auch
leidlich gut versorgt ist? Nein, lassen wir die Weltmachtspolitik den andern
und nehmen wir uns ein Beispiel an Mhnheer, dem friedlich-fetten Vetter an
der Amstel!

So dachten und denken noch heute viele bei uns -- wenn man das
Politisch denken nennen will, und nicht vielmehr politisch schlafen. Aber die
Zeit ist -- zum Glück vielleicht -- nicht dazu angethan, uns dem politischen
Schlummer zu überlassen; ich meine dem weltpolitischen, denn für den Raben
im Hause sind wir ja immer wach, und wir sind sogar bereit, wenn die täglichen


Grenzboten II 1898 45


Was in Gstasien vorgeht

elche Mühe kostet es, dem deutschen Michel beizubringen, dnß er
seit 1870 in ein Alter gekommen sei, wo er sich nicht mehr die
Püffe und die Schelte der Großen gefallen zu lassen brauche!
Wie schwer wird es ihm, die gewohnten Kinderschuhe und die
Nachtmütze des alten Bundestages zu vergessen, wie schwer, den
Nacken steif zu halten, wenn er sich den ältern Kameraden fremden Stammes
gegenüber sieht! Seit dreißig Jahren arbeiten Lehrer und Erfahrung an ihm
herum, aber nur strampelnd und weinerlich ließ er sich bewegen, übers Meer
zu gehen nach eignen Kolonien, oder sich eine Flotte zu bauen, die, wie er
fürchtete, ihn in allerlei Welthändel verwickeln könnte. Wie wohlgefällig nahm
er die Versicherung auf, daß Deutschland nun gesättigt sei, als er den Helgo-
länder Stein verschluckt hatte, und wie viele unsrer Volkshelden erschraken,
als sie dann später aus demselben Munde die andre Versicherung hörten, daß
wir eine Weltmacht sein oder werden müßten! Die Kinderstube mit dem
netten politischen Puppen- und Parlamentchenspiel und dem gemütlichen
Deutschlandsgarten daran, wo wir uns so schön unter einander prügeln dürfen,
ohne daß einer der „Großen" uns mehr, wie ehedem, dreinreden darf — es
ist so schön! und weshalb sollen wir hinaus in die böse Welt, weshalb wetten
und wagen, wenn meins daheim so gut hat und, Gott sei Dank, der Tisch auch
leidlich gut versorgt ist? Nein, lassen wir die Weltmachtspolitik den andern
und nehmen wir uns ein Beispiel an Mhnheer, dem friedlich-fetten Vetter an
der Amstel!

So dachten und denken noch heute viele bei uns — wenn man das
Politisch denken nennen will, und nicht vielmehr politisch schlafen. Aber die
Zeit ist — zum Glück vielleicht — nicht dazu angethan, uns dem politischen
Schlummer zu überlassen; ich meine dem weltpolitischen, denn für den Raben
im Hause sind wir ja immer wach, und wir sind sogar bereit, wenn die täglichen


Grenzboten II 1898 45
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[0361] [Abbildung] Was in Gstasien vorgeht elche Mühe kostet es, dem deutschen Michel beizubringen, dnß er seit 1870 in ein Alter gekommen sei, wo er sich nicht mehr die Püffe und die Schelte der Großen gefallen zu lassen brauche! Wie schwer wird es ihm, die gewohnten Kinderschuhe und die Nachtmütze des alten Bundestages zu vergessen, wie schwer, den Nacken steif zu halten, wenn er sich den ältern Kameraden fremden Stammes gegenüber sieht! Seit dreißig Jahren arbeiten Lehrer und Erfahrung an ihm herum, aber nur strampelnd und weinerlich ließ er sich bewegen, übers Meer zu gehen nach eignen Kolonien, oder sich eine Flotte zu bauen, die, wie er fürchtete, ihn in allerlei Welthändel verwickeln könnte. Wie wohlgefällig nahm er die Versicherung auf, daß Deutschland nun gesättigt sei, als er den Helgo- länder Stein verschluckt hatte, und wie viele unsrer Volkshelden erschraken, als sie dann später aus demselben Munde die andre Versicherung hörten, daß wir eine Weltmacht sein oder werden müßten! Die Kinderstube mit dem netten politischen Puppen- und Parlamentchenspiel und dem gemütlichen Deutschlandsgarten daran, wo wir uns so schön unter einander prügeln dürfen, ohne daß einer der „Großen" uns mehr, wie ehedem, dreinreden darf — es ist so schön! und weshalb sollen wir hinaus in die böse Welt, weshalb wetten und wagen, wenn meins daheim so gut hat und, Gott sei Dank, der Tisch auch leidlich gut versorgt ist? Nein, lassen wir die Weltmachtspolitik den andern und nehmen wir uns ein Beispiel an Mhnheer, dem friedlich-fetten Vetter an der Amstel! So dachten und denken noch heute viele bei uns — wenn man das Politisch denken nennen will, und nicht vielmehr politisch schlafen. Aber die Zeit ist — zum Glück vielleicht — nicht dazu angethan, uns dem politischen Schlummer zu überlassen; ich meine dem weltpolitischen, denn für den Raben im Hause sind wir ja immer wach, und wir sind sogar bereit, wenn die täglichen Grenzboten II 1898 45

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/361>, abgerufen am 26.12.2024.