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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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er überhaupt kein Todesurteil bestätigt, schon aus Pietät gegen den Vater,
der die Todesstrafe grundsätzlich verwarf; und auch jetzt thut er es nur dann,
wenn die Schuld ganz unzweifelhaft ist und ein Geständnis vorliegt.

Bei einer festlichen Veranstaltung hat König Albert einmal gesagt: "Es
ist doch schön, König von Sachsen zu sein," und während der letzten Festtage
war er über die ihm entgegengebrachten zahllosen Beweise der Anhänglichkeit
ruit Verehrung offenbar herzlich erfreut; Mahnungen der Ärzte, sich zu
schonen, hatte er lächelnd abgewiesen. So ist ihm wirklich das seltne Glück
zu teil geworden, ganz mit und in seinem Volke zu leben, dasselbe Glück,
das Kaiser Wilhelms I. Alter bezeichnet hat. Es ist ihm geworden, weil er
eine Reihe deutscher und besonders vielleicht sächsischer Charakterzüge in sich
vereinigt, weil also sein Volk in ihm sich selbst wiedererkennt, und weil er
wiederum seinen Herzschlag versteht- Von einem solchen Verhältnis hat kaum
" ein andres Volk eine Ahnung, es ist deutsch.




Eine Modedichterin

er Ehrentitel "Deutsche Sappho," mit dem jüngst ein Teil der Kritik
Johanna Ambrosius geschmückt hat, ist schon einmal einer deutschen
Dichterin zu teil geworden, der schlesischen Hirtin Anna Luise
Karsch. Sie war in äußerst kümmerlichen und bedrängten Ver¬
hältnissen aufgewachsen und hatte in zwei unglücklichen Ehen
von des Lebens Bitternissen reichlich kosten müssen, als der
Baron von Kottwitz sie "entdeckte" und im Jahre 1761 in das Berliner Litte¬
raturleben einführte. Bald wurde sie von dem neuigkeitslüsternen Publikum
über die Maßen gefeiert und verhimmelt, die ersten Gesellschaftskreise und
sogar der Hof öffneten sich ihr, und mit den Sternen am damaligen Litteratur¬
himmel, namentlich mit Ramler und Sulzer. stand sie in lebhaftem Verkehr.
Sie durfte mit Recht in dem Gedicht an ihren verstorbnen Oheim von sich
sagen:


Blick nuf diese feinern Menschen nieder,
Alle singen deiner 'Nichte Lieder.

Als Dichterin war sie uicht unbegabt: die Natur hatte ihr eine lebhafte Phan¬
tasie und seltne Versgewnudtheit verliehen, aber ihre Bedeutung stand uicht
im Einklang mit der überschwänglichen Begeisterung, womit man sie trotz
Herders Warnung feierte, einer Begeisterung, an der Mitleid für die Schicksale
der hartgeprüften Frau und Bewunderung, daß in so beschränkten und ge¬
drückten Lebenssphären eine Dichterin erstehen konnte, ihren Anteil hatten.
Als mächtigste Schutzgöttin aber stand der Karschin, wie sie allgemein genannt


Grenzboten II 1398 31
Line lNodedichterin

er überhaupt kein Todesurteil bestätigt, schon aus Pietät gegen den Vater,
der die Todesstrafe grundsätzlich verwarf; und auch jetzt thut er es nur dann,
wenn die Schuld ganz unzweifelhaft ist und ein Geständnis vorliegt.

Bei einer festlichen Veranstaltung hat König Albert einmal gesagt: „Es
ist doch schön, König von Sachsen zu sein," und während der letzten Festtage
war er über die ihm entgegengebrachten zahllosen Beweise der Anhänglichkeit
ruit Verehrung offenbar herzlich erfreut; Mahnungen der Ärzte, sich zu
schonen, hatte er lächelnd abgewiesen. So ist ihm wirklich das seltne Glück
zu teil geworden, ganz mit und in seinem Volke zu leben, dasselbe Glück,
das Kaiser Wilhelms I. Alter bezeichnet hat. Es ist ihm geworden, weil er
eine Reihe deutscher und besonders vielleicht sächsischer Charakterzüge in sich
vereinigt, weil also sein Volk in ihm sich selbst wiedererkennt, und weil er
wiederum seinen Herzschlag versteht- Von einem solchen Verhältnis hat kaum
" ein andres Volk eine Ahnung, es ist deutsch.




Eine Modedichterin

er Ehrentitel „Deutsche Sappho," mit dem jüngst ein Teil der Kritik
Johanna Ambrosius geschmückt hat, ist schon einmal einer deutschen
Dichterin zu teil geworden, der schlesischen Hirtin Anna Luise
Karsch. Sie war in äußerst kümmerlichen und bedrängten Ver¬
hältnissen aufgewachsen und hatte in zwei unglücklichen Ehen
von des Lebens Bitternissen reichlich kosten müssen, als der
Baron von Kottwitz sie „entdeckte" und im Jahre 1761 in das Berliner Litte¬
raturleben einführte. Bald wurde sie von dem neuigkeitslüsternen Publikum
über die Maßen gefeiert und verhimmelt, die ersten Gesellschaftskreise und
sogar der Hof öffneten sich ihr, und mit den Sternen am damaligen Litteratur¬
himmel, namentlich mit Ramler und Sulzer. stand sie in lebhaftem Verkehr.
Sie durfte mit Recht in dem Gedicht an ihren verstorbnen Oheim von sich
sagen:


Blick nuf diese feinern Menschen nieder,
Alle singen deiner 'Nichte Lieder.

Als Dichterin war sie uicht unbegabt: die Natur hatte ihr eine lebhafte Phan¬
tasie und seltne Versgewnudtheit verliehen, aber ihre Bedeutung stand uicht
im Einklang mit der überschwänglichen Begeisterung, womit man sie trotz
Herders Warnung feierte, einer Begeisterung, an der Mitleid für die Schicksale
der hartgeprüften Frau und Bewunderung, daß in so beschränkten und ge¬
drückten Lebenssphären eine Dichterin erstehen konnte, ihren Anteil hatten.
Als mächtigste Schutzgöttin aber stand der Karschin, wie sie allgemein genannt


Grenzboten II 1398 31
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/249>, abgerufen am 23.07.2024.