Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Bibel

Landvolk verstanden ist, dieses ist aber eben so getreu in seinem äußern wie in
seinem seelischen Leben dargestellt: Dorf und Flur, das Haus, Körperbeschaffen-
heit und Tracht, Sitte und Brauch (die Hälfte des ganzen Buches), die Volks-
sprache und die Mundarten, die Volksdichtung, Sage und Märchen heißen die
Kapitelüberschriften. Daß hier nur von der Innenseite unsers Volkslebens
ein wenig die Rede gewesen ist, damit muß sich der Verfasser um so eher ein¬
verstanden erklären, als auch er sein umfassendes Buch so schließt:

Nach dem letzten Griinmschen Märchen fand ein armer Junge im Schnee
einen kleinen goldnen Schlüssel und grub auch bald das dazu gehörige eiserne
Kästchen aus der Erde. Er fand auch endlich ein ganz kleines Schlüsselloch,
daß man es kaum sehen konnte. Er probirte, und der Schlüssel paßte glücklich.
Da drehte er einmal herum, und nun müssen wir warten, bis er vollends
aufgeschlossen und den Deckel aufgemacht hat, dann werde" wir erfahren, was
für wunderbare Sachen in dem Kästchen lagen.

Möge uns die Volkskunde mit der völligen Aufschließung des Herzens
R. w. unsers Volkes nicht allzulange warten lassen!




Die Bibel
(Schluß)

le didaktischen Bücher enthalten dreierlei. Erstens zwei Spruch¬
sammlungen; die umfangreichsten, schönsten und praktisch wert¬
vollsten der Weltlitteratur. Die ältere von ihnen trägt nicht
mit Unrecht den Namen Salomos, da ihr Kern zweifellos auf
diesen gekrönten Lebeusphilosophen zurückgeht. Zweitens die
Blüte der hebräischen Lyrik. Die weltliche ist durch das Hohe
Lied vertreten, dessen Aufnahme in den Kanon der brüntlichen Liebe die Weihe
einer heiligen, in der göttlichen Ordnung begründeten Empfindung verleiht.
Die über jeden Preis erhabne liturgische Lyrik der Psalmen ist der Christen¬
heit nur zu einem kleinen Teile durch einige Kirchenlieder zugänglich gemacht
worden. Die deutschen Prosaübersetzungen lassen natürlich die poetische Kraft
des Originals nnr sehr unvollkommen zur Wirkung kommen,"und die Vulgata-
übersctzung ist vielfach sinnlos ausgefallen, weil die ältern Übersetzer des He¬
bräischen nicht hinreichend mächtig waren, aber auch nicht wagten, die unver-
standnen Stellen wegzulassen oder das mangelnde Verständnis durch Ver¬
mutungen zu ersetzen. Es soll gute poetische Bearbeitungen des ganzen
Psalmenbuches geben; jedenfalls ist keines davon Gemeingut der deutschen
Christenheit, auch nur des evangelischen Teils geworden; ich kenne nur gute
Bearbeitungen einzelner Psalmen aus einem alten Gebetbuche, von dem ich


Die Bibel

Landvolk verstanden ist, dieses ist aber eben so getreu in seinem äußern wie in
seinem seelischen Leben dargestellt: Dorf und Flur, das Haus, Körperbeschaffen-
heit und Tracht, Sitte und Brauch (die Hälfte des ganzen Buches), die Volks-
sprache und die Mundarten, die Volksdichtung, Sage und Märchen heißen die
Kapitelüberschriften. Daß hier nur von der Innenseite unsers Volkslebens
ein wenig die Rede gewesen ist, damit muß sich der Verfasser um so eher ein¬
verstanden erklären, als auch er sein umfassendes Buch so schließt:

Nach dem letzten Griinmschen Märchen fand ein armer Junge im Schnee
einen kleinen goldnen Schlüssel und grub auch bald das dazu gehörige eiserne
Kästchen aus der Erde. Er fand auch endlich ein ganz kleines Schlüsselloch,
daß man es kaum sehen konnte. Er probirte, und der Schlüssel paßte glücklich.
Da drehte er einmal herum, und nun müssen wir warten, bis er vollends
aufgeschlossen und den Deckel aufgemacht hat, dann werde» wir erfahren, was
für wunderbare Sachen in dem Kästchen lagen.

Möge uns die Volkskunde mit der völligen Aufschließung des Herzens
R. w. unsers Volkes nicht allzulange warten lassen!




Die Bibel
(Schluß)

le didaktischen Bücher enthalten dreierlei. Erstens zwei Spruch¬
sammlungen; die umfangreichsten, schönsten und praktisch wert¬
vollsten der Weltlitteratur. Die ältere von ihnen trägt nicht
mit Unrecht den Namen Salomos, da ihr Kern zweifellos auf
diesen gekrönten Lebeusphilosophen zurückgeht. Zweitens die
Blüte der hebräischen Lyrik. Die weltliche ist durch das Hohe
Lied vertreten, dessen Aufnahme in den Kanon der brüntlichen Liebe die Weihe
einer heiligen, in der göttlichen Ordnung begründeten Empfindung verleiht.
Die über jeden Preis erhabne liturgische Lyrik der Psalmen ist der Christen¬
heit nur zu einem kleinen Teile durch einige Kirchenlieder zugänglich gemacht
worden. Die deutschen Prosaübersetzungen lassen natürlich die poetische Kraft
des Originals nnr sehr unvollkommen zur Wirkung kommen,„und die Vulgata-
übersctzung ist vielfach sinnlos ausgefallen, weil die ältern Übersetzer des He¬
bräischen nicht hinreichend mächtig waren, aber auch nicht wagten, die unver-
standnen Stellen wegzulassen oder das mangelnde Verständnis durch Ver¬
mutungen zu ersetzen. Es soll gute poetische Bearbeitungen des ganzen
Psalmenbuches geben; jedenfalls ist keines davon Gemeingut der deutschen
Christenheit, auch nur des evangelischen Teils geworden; ich kenne nur gute
Bearbeitungen einzelner Psalmen aus einem alten Gebetbuche, von dem ich


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0707" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227609"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Bibel</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2494" prev="#ID_2493"> Landvolk verstanden ist, dieses ist aber eben so getreu in seinem äußern wie in<lb/>
seinem seelischen Leben dargestellt: Dorf und Flur, das Haus, Körperbeschaffen-<lb/>
heit und Tracht, Sitte und Brauch (die Hälfte des ganzen Buches), die Volks-<lb/>
sprache und die Mundarten, die Volksdichtung, Sage und Märchen heißen die<lb/>
Kapitelüberschriften. Daß hier nur von der Innenseite unsers Volkslebens<lb/>
ein wenig die Rede gewesen ist, damit muß sich der Verfasser um so eher ein¬<lb/>
verstanden erklären, als auch er sein umfassendes Buch so schließt:</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2495"> Nach dem letzten Griinmschen Märchen fand ein armer Junge im Schnee<lb/>
einen kleinen goldnen Schlüssel und grub auch bald das dazu gehörige eiserne<lb/>
Kästchen aus der Erde. Er fand auch endlich ein ganz kleines Schlüsselloch,<lb/>
daß man es kaum sehen konnte. Er probirte, und der Schlüssel paßte glücklich.<lb/>
Da drehte er einmal herum, und nun müssen wir warten, bis er vollends<lb/>
aufgeschlossen und den Deckel aufgemacht hat, dann werde» wir erfahren, was<lb/>
für wunderbare Sachen in dem Kästchen lagen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2496"> Möge uns die Volkskunde mit der völligen Aufschließung des Herzens<lb/><note type="byline"> R. w.</note> unsers Volkes nicht allzulange warten lassen! </p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Die Bibel<lb/>
(Schluß) </head><lb/>
          <p xml:id="ID_2497" next="#ID_2498"> le didaktischen Bücher enthalten dreierlei. Erstens zwei Spruch¬<lb/>
sammlungen; die umfangreichsten, schönsten und praktisch wert¬<lb/>
vollsten der Weltlitteratur. Die ältere von ihnen trägt nicht<lb/>
mit Unrecht den Namen Salomos, da ihr Kern zweifellos auf<lb/>
diesen gekrönten Lebeusphilosophen zurückgeht. Zweitens die<lb/>
Blüte der hebräischen Lyrik. Die weltliche ist durch das Hohe<lb/>
Lied vertreten, dessen Aufnahme in den Kanon der brüntlichen Liebe die Weihe<lb/>
einer heiligen, in der göttlichen Ordnung begründeten Empfindung verleiht.<lb/>
Die über jeden Preis erhabne liturgische Lyrik der Psalmen ist der Christen¬<lb/>
heit nur zu einem kleinen Teile durch einige Kirchenlieder zugänglich gemacht<lb/>
worden. Die deutschen Prosaübersetzungen lassen natürlich die poetische Kraft<lb/>
des Originals nnr sehr unvollkommen zur Wirkung kommen,&#x201E;und die Vulgata-<lb/>
übersctzung ist vielfach sinnlos ausgefallen, weil die ältern Übersetzer des He¬<lb/>
bräischen nicht hinreichend mächtig waren, aber auch nicht wagten, die unver-<lb/>
standnen Stellen wegzulassen oder das mangelnde Verständnis durch Ver¬<lb/>
mutungen zu ersetzen. Es soll gute poetische Bearbeitungen des ganzen<lb/>
Psalmenbuches geben; jedenfalls ist keines davon Gemeingut der deutschen<lb/>
Christenheit, auch nur des evangelischen Teils geworden; ich kenne nur gute<lb/>
Bearbeitungen einzelner Psalmen aus einem alten Gebetbuche, von dem ich</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0707] Die Bibel Landvolk verstanden ist, dieses ist aber eben so getreu in seinem äußern wie in seinem seelischen Leben dargestellt: Dorf und Flur, das Haus, Körperbeschaffen- heit und Tracht, Sitte und Brauch (die Hälfte des ganzen Buches), die Volks- sprache und die Mundarten, die Volksdichtung, Sage und Märchen heißen die Kapitelüberschriften. Daß hier nur von der Innenseite unsers Volkslebens ein wenig die Rede gewesen ist, damit muß sich der Verfasser um so eher ein¬ verstanden erklären, als auch er sein umfassendes Buch so schließt: Nach dem letzten Griinmschen Märchen fand ein armer Junge im Schnee einen kleinen goldnen Schlüssel und grub auch bald das dazu gehörige eiserne Kästchen aus der Erde. Er fand auch endlich ein ganz kleines Schlüsselloch, daß man es kaum sehen konnte. Er probirte, und der Schlüssel paßte glücklich. Da drehte er einmal herum, und nun müssen wir warten, bis er vollends aufgeschlossen und den Deckel aufgemacht hat, dann werde» wir erfahren, was für wunderbare Sachen in dem Kästchen lagen. Möge uns die Volkskunde mit der völligen Aufschließung des Herzens R. w. unsers Volkes nicht allzulange warten lassen! Die Bibel (Schluß) le didaktischen Bücher enthalten dreierlei. Erstens zwei Spruch¬ sammlungen; die umfangreichsten, schönsten und praktisch wert¬ vollsten der Weltlitteratur. Die ältere von ihnen trägt nicht mit Unrecht den Namen Salomos, da ihr Kern zweifellos auf diesen gekrönten Lebeusphilosophen zurückgeht. Zweitens die Blüte der hebräischen Lyrik. Die weltliche ist durch das Hohe Lied vertreten, dessen Aufnahme in den Kanon der brüntlichen Liebe die Weihe einer heiligen, in der göttlichen Ordnung begründeten Empfindung verleiht. Die über jeden Preis erhabne liturgische Lyrik der Psalmen ist der Christen¬ heit nur zu einem kleinen Teile durch einige Kirchenlieder zugänglich gemacht worden. Die deutschen Prosaübersetzungen lassen natürlich die poetische Kraft des Originals nnr sehr unvollkommen zur Wirkung kommen,„und die Vulgata- übersctzung ist vielfach sinnlos ausgefallen, weil die ältern Übersetzer des He¬ bräischen nicht hinreichend mächtig waren, aber auch nicht wagten, die unver- standnen Stellen wegzulassen oder das mangelnde Verständnis durch Ver¬ mutungen zu ersetzen. Es soll gute poetische Bearbeitungen des ganzen Psalmenbuches geben; jedenfalls ist keines davon Gemeingut der deutschen Christenheit, auch nur des evangelischen Teils geworden; ich kenne nur gute Bearbeitungen einzelner Psalmen aus einem alten Gebetbuche, von dem ich

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/707
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/707>, abgerufen am 05.01.2025.