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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Doktrinarismus in der Sozialpolitik

schlosseuer und klarer Wille die Leitung übernahm und die Schwierigkeiten der
europäische" Lage zu überwinden verstand, gelang die Bereinigung dieser Kräfte,
und auf dem festen Grunde des preußischen Staats und der deutschen Mon¬
archie erwuchs als eine folgerichtige Weiterbildung der eigentümlichen Ent¬
wicklung Deutschlands, nicht als eine Verwirklichung unhistorischer und im
^ Grunde undeutscher politischer Theorien, das Deutsche Reich.




Doktrinarismus in der Sozialpolitik

aum hatte uns Herr Professor Dr. Julius Wolf in Vreslau mit
dem ersten Teil eines Aufsatzes über "Illusionisten und Realisten
in der Nationalökonomie" aufgewartet, da erschien auch schon der
zweite der Strafprofesforen, Herr Reinhold in Berlin, mit einem
Vortrag über Illusionen in der Sozialpolitik auf der Bühne.
Das Thema seines am 9. Februar im Berliner "Sozialwissenschaftlichen
Studentenverein" gehaltenen Vortrags lautete: "Assoziation, Gewinnbeteiligung,
Gewerkverein -- drei Illusionen der modernen Sozialpolitik." Wir haben ihn
nicht selbst gehört, und ein vom Redner autorisirter Bericht ist uns bisher
nicht zu Gesicht gekommen. Was wir davon wissen, stammt aus dem aus¬
führlichen Bericht des "Reichsboten" vom 15. Februar, den das Blatt mit
einem längern kritischen Leitartikel begleitet. Hoffentlich wird Professor Rein¬
hold recht bald mit einer urkundlichen Darlegung seiner Theorien vor die
Öffentlichkeit treten. Er wird als ein aus der juristischen Praxis zum sozial¬
politischen Lehramt berufner Strafprofessor unser dringendes Verlangen darnach
sicher am besten begreifen. Jetzt ist Herr Wolf nun auch mit dem zweiten
Teile zum Vorschein gekommen, worin er seinen Optimismus gegenüber dem
Pessimismus des Herrn Reinhold noch ein wenig mehr ins Licht rückt. Es
ist ja zunächst ein ganz unterhaltendes Bild, was sich uns bietet: der Straf¬
professor in Vreslau als geistreicher Prophet des sozialen Optimismus, der
Strafprofcssvr in Berlin als womöglich noch geistreicherer Sänger des Pessi¬
mismus. Aber man muß doch auch alles Ernstes darnach fragen, was da
sür die soziale Praxis, an der uns Geistesarmen alles liegt, schließlich heraus¬
kommen kann. Vorläufig sind die Aussichten auf eine befriedigende Beant¬
wortung dieser Frage noch immer recht trübe. Doktrinarismus gegen Doktri¬
narismus auf der Mensur, vielleicht in inöniwin. Aber das deutsche Volk
hat ein Recht zu fordern, daß Ernst gemacht wird. Die sozialistische Verrannt¬
heit muß heraus aus der Praxis und aus den Hörsälen, ehe die Sozial-


Doktrinarismus in der Sozialpolitik

schlosseuer und klarer Wille die Leitung übernahm und die Schwierigkeiten der
europäische» Lage zu überwinden verstand, gelang die Bereinigung dieser Kräfte,
und auf dem festen Grunde des preußischen Staats und der deutschen Mon¬
archie erwuchs als eine folgerichtige Weiterbildung der eigentümlichen Ent¬
wicklung Deutschlands, nicht als eine Verwirklichung unhistorischer und im
^ Grunde undeutscher politischer Theorien, das Deutsche Reich.




Doktrinarismus in der Sozialpolitik

aum hatte uns Herr Professor Dr. Julius Wolf in Vreslau mit
dem ersten Teil eines Aufsatzes über „Illusionisten und Realisten
in der Nationalökonomie" aufgewartet, da erschien auch schon der
zweite der Strafprofesforen, Herr Reinhold in Berlin, mit einem
Vortrag über Illusionen in der Sozialpolitik auf der Bühne.
Das Thema seines am 9. Februar im Berliner „Sozialwissenschaftlichen
Studentenverein" gehaltenen Vortrags lautete: „Assoziation, Gewinnbeteiligung,
Gewerkverein — drei Illusionen der modernen Sozialpolitik." Wir haben ihn
nicht selbst gehört, und ein vom Redner autorisirter Bericht ist uns bisher
nicht zu Gesicht gekommen. Was wir davon wissen, stammt aus dem aus¬
führlichen Bericht des „Reichsboten" vom 15. Februar, den das Blatt mit
einem längern kritischen Leitartikel begleitet. Hoffentlich wird Professor Rein¬
hold recht bald mit einer urkundlichen Darlegung seiner Theorien vor die
Öffentlichkeit treten. Er wird als ein aus der juristischen Praxis zum sozial¬
politischen Lehramt berufner Strafprofessor unser dringendes Verlangen darnach
sicher am besten begreifen. Jetzt ist Herr Wolf nun auch mit dem zweiten
Teile zum Vorschein gekommen, worin er seinen Optimismus gegenüber dem
Pessimismus des Herrn Reinhold noch ein wenig mehr ins Licht rückt. Es
ist ja zunächst ein ganz unterhaltendes Bild, was sich uns bietet: der Straf¬
professor in Vreslau als geistreicher Prophet des sozialen Optimismus, der
Strafprofcssvr in Berlin als womöglich noch geistreicherer Sänger des Pessi¬
mismus. Aber man muß doch auch alles Ernstes darnach fragen, was da
sür die soziale Praxis, an der uns Geistesarmen alles liegt, schließlich heraus¬
kommen kann. Vorläufig sind die Aussichten auf eine befriedigende Beant¬
wortung dieser Frage noch immer recht trübe. Doktrinarismus gegen Doktri¬
narismus auf der Mensur, vielleicht in inöniwin. Aber das deutsche Volk
hat ein Recht zu fordern, daß Ernst gemacht wird. Die sozialistische Verrannt¬
heit muß heraus aus der Praxis und aus den Hörsälen, ehe die Sozial-


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[0576] Doktrinarismus in der Sozialpolitik schlosseuer und klarer Wille die Leitung übernahm und die Schwierigkeiten der europäische» Lage zu überwinden verstand, gelang die Bereinigung dieser Kräfte, und auf dem festen Grunde des preußischen Staats und der deutschen Mon¬ archie erwuchs als eine folgerichtige Weiterbildung der eigentümlichen Ent¬ wicklung Deutschlands, nicht als eine Verwirklichung unhistorischer und im ^ Grunde undeutscher politischer Theorien, das Deutsche Reich. Doktrinarismus in der Sozialpolitik aum hatte uns Herr Professor Dr. Julius Wolf in Vreslau mit dem ersten Teil eines Aufsatzes über „Illusionisten und Realisten in der Nationalökonomie" aufgewartet, da erschien auch schon der zweite der Strafprofesforen, Herr Reinhold in Berlin, mit einem Vortrag über Illusionen in der Sozialpolitik auf der Bühne. Das Thema seines am 9. Februar im Berliner „Sozialwissenschaftlichen Studentenverein" gehaltenen Vortrags lautete: „Assoziation, Gewinnbeteiligung, Gewerkverein — drei Illusionen der modernen Sozialpolitik." Wir haben ihn nicht selbst gehört, und ein vom Redner autorisirter Bericht ist uns bisher nicht zu Gesicht gekommen. Was wir davon wissen, stammt aus dem aus¬ führlichen Bericht des „Reichsboten" vom 15. Februar, den das Blatt mit einem längern kritischen Leitartikel begleitet. Hoffentlich wird Professor Rein¬ hold recht bald mit einer urkundlichen Darlegung seiner Theorien vor die Öffentlichkeit treten. Er wird als ein aus der juristischen Praxis zum sozial¬ politischen Lehramt berufner Strafprofessor unser dringendes Verlangen darnach sicher am besten begreifen. Jetzt ist Herr Wolf nun auch mit dem zweiten Teile zum Vorschein gekommen, worin er seinen Optimismus gegenüber dem Pessimismus des Herrn Reinhold noch ein wenig mehr ins Licht rückt. Es ist ja zunächst ein ganz unterhaltendes Bild, was sich uns bietet: der Straf¬ professor in Vreslau als geistreicher Prophet des sozialen Optimismus, der Strafprofcssvr in Berlin als womöglich noch geistreicherer Sänger des Pessi¬ mismus. Aber man muß doch auch alles Ernstes darnach fragen, was da sür die soziale Praxis, an der uns Geistesarmen alles liegt, schließlich heraus¬ kommen kann. Vorläufig sind die Aussichten auf eine befriedigende Beant¬ wortung dieser Frage noch immer recht trübe. Doktrinarismus gegen Doktri¬ narismus auf der Mensur, vielleicht in inöniwin. Aber das deutsche Volk hat ein Recht zu fordern, daß Ernst gemacht wird. Die sozialistische Verrannt¬ heit muß heraus aus der Praxis und aus den Hörsälen, ehe die Sozial-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/576>, abgerufen am 05.01.2025.