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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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seiner Verödung trügt. Das Ganze ist also mehr eine Stoffsammlung als
eine Darstellung, aber eine sehr sorgfältige und vermutlich praktisch besonders
brauchbare Sammlung.

Das Interesse für Kleinasien als Zukunftsland deutscher Arbeit ist also
erwacht, und uns scheint, als ob es an der Zeit sei, daß auch die große Masse
der politisch interessirten Deutschen sich daran gewöhne, an unsre Mittelmeer¬
interessen zu glauben. Wie sie von oben her zu fördern sind, das zu sagen
maßen wir uns nicht an, aber Herr von Vülow ist sicherlich nicht umsonst
Botschafter in Rom gewesen, und wenn der Kaiser in diesem Jahre nach
Jerusalem geht, der zweite Träger der deutschen Kaiserkrone, der die heilige
Stadt betritt, dann wird der ganze mohammedanische Orient wiederhallen von
dem mächtigen Sultan des Abendlandes, der als Freund des Khalifen kommt,
nicht als Feind des Islam. Soll dieser Eindruck, diese ganze Gunst
der Lage unbenutzt bleiben? Vielleicht mischt Herr von Vülow schon die
Karten zu einer interessanten und glückliche" Whistpartie. Jedenfalls dürfen
wir auch hier volles Vertrauen haben. Bei dem deutschen Erfolg in China
haben sich weltumspannende Weite des politischen und wirtschaftlichen Gesichts¬
kreises, umsichtige Benutzung der Weltlage und Energie der Durchführung so
glücklich vereinigt, daß keine Macht Widerspruch erhoben hat, und daß jeder
die Überzeugung gewinnen muß: die auswärtige Politik des Deutschen Reichs
* liegt in den Händen der rechten Männer.




Madlene I. H. Löffler Erzählung aus dem oberfränkischen Volksleben von
Verfasser von "Martin Bötzinger"
(Fortsetzung)
3. Reif zur Ernte

elf zur Ernte. Ein altes Lied und ein langes Lied von kühn schwei¬
fender Modulation, das nicht ausgesungen werden kann. Reif zur
Ernte! So klingt dein Landmann nach dem Sichelmarkt das
Rauschen des goldigen Ährenfeldes im Ohr als beglückender Gesang.
Bald wie Sirenengesang, bald wie Richterruf trifft es den Menschen,
ob Jüngling, Greis oder Säugling: Reif zur Ernte! Denn der
Mensch ist begehrlich und doch auch wie Gras, ein nufgegcmgnes Körnlein im
Völkerncker. Aber jedes Menschenherz ist wieder ein besonders bestellter Acker, ein
Mutterboden mit wunderbarer Sant von tausenderlei Samen. Und je nach der
Beschaffenheit des Mutterbodens und der Witterung kommt da zur Reife eine


Madlene

seiner Verödung trügt. Das Ganze ist also mehr eine Stoffsammlung als
eine Darstellung, aber eine sehr sorgfältige und vermutlich praktisch besonders
brauchbare Sammlung.

Das Interesse für Kleinasien als Zukunftsland deutscher Arbeit ist also
erwacht, und uns scheint, als ob es an der Zeit sei, daß auch die große Masse
der politisch interessirten Deutschen sich daran gewöhne, an unsre Mittelmeer¬
interessen zu glauben. Wie sie von oben her zu fördern sind, das zu sagen
maßen wir uns nicht an, aber Herr von Vülow ist sicherlich nicht umsonst
Botschafter in Rom gewesen, und wenn der Kaiser in diesem Jahre nach
Jerusalem geht, der zweite Träger der deutschen Kaiserkrone, der die heilige
Stadt betritt, dann wird der ganze mohammedanische Orient wiederhallen von
dem mächtigen Sultan des Abendlandes, der als Freund des Khalifen kommt,
nicht als Feind des Islam. Soll dieser Eindruck, diese ganze Gunst
der Lage unbenutzt bleiben? Vielleicht mischt Herr von Vülow schon die
Karten zu einer interessanten und glückliche» Whistpartie. Jedenfalls dürfen
wir auch hier volles Vertrauen haben. Bei dem deutschen Erfolg in China
haben sich weltumspannende Weite des politischen und wirtschaftlichen Gesichts¬
kreises, umsichtige Benutzung der Weltlage und Energie der Durchführung so
glücklich vereinigt, daß keine Macht Widerspruch erhoben hat, und daß jeder
die Überzeugung gewinnen muß: die auswärtige Politik des Deutschen Reichs
* liegt in den Händen der rechten Männer.




Madlene I. H. Löffler Erzählung aus dem oberfränkischen Volksleben von
Verfasser von „Martin Bötzinger"
(Fortsetzung)
3. Reif zur Ernte

elf zur Ernte. Ein altes Lied und ein langes Lied von kühn schwei¬
fender Modulation, das nicht ausgesungen werden kann. Reif zur
Ernte! So klingt dein Landmann nach dem Sichelmarkt das
Rauschen des goldigen Ährenfeldes im Ohr als beglückender Gesang.
Bald wie Sirenengesang, bald wie Richterruf trifft es den Menschen,
ob Jüngling, Greis oder Säugling: Reif zur Ernte! Denn der
Mensch ist begehrlich und doch auch wie Gras, ein nufgegcmgnes Körnlein im
Völkerncker. Aber jedes Menschenherz ist wieder ein besonders bestellter Acker, ein
Mutterboden mit wunderbarer Sant von tausenderlei Samen. Und je nach der
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[0391] Madlene seiner Verödung trügt. Das Ganze ist also mehr eine Stoffsammlung als eine Darstellung, aber eine sehr sorgfältige und vermutlich praktisch besonders brauchbare Sammlung. Das Interesse für Kleinasien als Zukunftsland deutscher Arbeit ist also erwacht, und uns scheint, als ob es an der Zeit sei, daß auch die große Masse der politisch interessirten Deutschen sich daran gewöhne, an unsre Mittelmeer¬ interessen zu glauben. Wie sie von oben her zu fördern sind, das zu sagen maßen wir uns nicht an, aber Herr von Vülow ist sicherlich nicht umsonst Botschafter in Rom gewesen, und wenn der Kaiser in diesem Jahre nach Jerusalem geht, der zweite Träger der deutschen Kaiserkrone, der die heilige Stadt betritt, dann wird der ganze mohammedanische Orient wiederhallen von dem mächtigen Sultan des Abendlandes, der als Freund des Khalifen kommt, nicht als Feind des Islam. Soll dieser Eindruck, diese ganze Gunst der Lage unbenutzt bleiben? Vielleicht mischt Herr von Vülow schon die Karten zu einer interessanten und glückliche» Whistpartie. Jedenfalls dürfen wir auch hier volles Vertrauen haben. Bei dem deutschen Erfolg in China haben sich weltumspannende Weite des politischen und wirtschaftlichen Gesichts¬ kreises, umsichtige Benutzung der Weltlage und Energie der Durchführung so glücklich vereinigt, daß keine Macht Widerspruch erhoben hat, und daß jeder die Überzeugung gewinnen muß: die auswärtige Politik des Deutschen Reichs * liegt in den Händen der rechten Männer. Madlene I. H. Löffler Erzählung aus dem oberfränkischen Volksleben von Verfasser von „Martin Bötzinger" (Fortsetzung) 3. Reif zur Ernte elf zur Ernte. Ein altes Lied und ein langes Lied von kühn schwei¬ fender Modulation, das nicht ausgesungen werden kann. Reif zur Ernte! So klingt dein Landmann nach dem Sichelmarkt das Rauschen des goldigen Ährenfeldes im Ohr als beglückender Gesang. Bald wie Sirenengesang, bald wie Richterruf trifft es den Menschen, ob Jüngling, Greis oder Säugling: Reif zur Ernte! Denn der Mensch ist begehrlich und doch auch wie Gras, ein nufgegcmgnes Körnlein im Völkerncker. Aber jedes Menschenherz ist wieder ein besonders bestellter Acker, ein Mutterboden mit wunderbarer Sant von tausenderlei Samen. Und je nach der Beschaffenheit des Mutterbodens und der Witterung kommt da zur Reife eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/391>, abgerufen am 05.01.2025.