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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Sozialdemokratie und Flotte

meer dem Titel "Marineforderungen, Kolonialpolitik und Arbeiter¬
interessen," von "Parvus," ist im Verlage der Sächsischen Arbeiter¬
zeitung in Dresden nun auch von sozialdemokratischer Seite die
Marinevorlage und die ihr zu Grunde liegende zukünftige See¬
handelspolitik des deutschen Reichs eingehend besprochen worden.
Die Schrift ist ein nicht ungeschickt eingerührtes Bauernvergiftungsmittel, nicht
schlechter und nicht besser als hundert andre, die in den letzten Jahren aus
der sozialdemokratischen Rezeptur hervorgegangen sind. Aber mehr als hundert
andre ist sie ein lehrreiches Beispiel erstens dafür, was die Sozialdemokratie
der deutschen Jndustriearbeiterschaft weis zu machen wagen darf und ohne
Zweifel auch weismachen kann, und zweitens, was wir von der in den be¬
kannten kathedersvzialistischen Kreisen immer noch für unantastbar erklärten
Vaterlandsliebe und Einsicht der sozialdemokratischen Führer und namentlich
der achtundvierzig Sozialdemokraten im Reichstage in solchen Fragen zu er¬
warten haben. Wenn auch in Einzelheiten der Flottenfrage diese Leute nicht
unter sich und mit Herrn "Parvus" durchweg übereinstimmen mögen, so ist doch
die Grundlage, ans der Herr Parvus sein Urteil über die deutsche Seehandels¬
politik aufbaut, dieselbe, mit der die Sozialdemokratie überhaupt steht und fällt:
daß sie grundsätzlich die politische Macht und das politische Gedeihen des
deutschen Reichs sür die soziale Revolution preisgiebt. Und damit wird
thatsächlich die grundsätzliche vaterlandslose Gesinnung bei ihrer Gefolgschaft,
bei der deutschen Arbeiterschaft, gefordert. Allerdings ist zur Zeit und auch für
die nächsten Reichstagswahlcn noch nicht zu hoffen, daß die Stellung der
Sozialdemokraten zur Flottenfrage den deutscheu Arbeitern die Augen öffnet
über den Verrat, den diese "Gesellen" an ihnen und dem Vaterlande üben.
Aber versuchen muß man doch, unter den Gebildeten schon jetzt das Verständnis


Grenzboten I 1398 44


Sozialdemokratie und Flotte

meer dem Titel „Marineforderungen, Kolonialpolitik und Arbeiter¬
interessen," von „Parvus," ist im Verlage der Sächsischen Arbeiter¬
zeitung in Dresden nun auch von sozialdemokratischer Seite die
Marinevorlage und die ihr zu Grunde liegende zukünftige See¬
handelspolitik des deutschen Reichs eingehend besprochen worden.
Die Schrift ist ein nicht ungeschickt eingerührtes Bauernvergiftungsmittel, nicht
schlechter und nicht besser als hundert andre, die in den letzten Jahren aus
der sozialdemokratischen Rezeptur hervorgegangen sind. Aber mehr als hundert
andre ist sie ein lehrreiches Beispiel erstens dafür, was die Sozialdemokratie
der deutschen Jndustriearbeiterschaft weis zu machen wagen darf und ohne
Zweifel auch weismachen kann, und zweitens, was wir von der in den be¬
kannten kathedersvzialistischen Kreisen immer noch für unantastbar erklärten
Vaterlandsliebe und Einsicht der sozialdemokratischen Führer und namentlich
der achtundvierzig Sozialdemokraten im Reichstage in solchen Fragen zu er¬
warten haben. Wenn auch in Einzelheiten der Flottenfrage diese Leute nicht
unter sich und mit Herrn „Parvus" durchweg übereinstimmen mögen, so ist doch
die Grundlage, ans der Herr Parvus sein Urteil über die deutsche Seehandels¬
politik aufbaut, dieselbe, mit der die Sozialdemokratie überhaupt steht und fällt:
daß sie grundsätzlich die politische Macht und das politische Gedeihen des
deutschen Reichs sür die soziale Revolution preisgiebt. Und damit wird
thatsächlich die grundsätzliche vaterlandslose Gesinnung bei ihrer Gefolgschaft,
bei der deutschen Arbeiterschaft, gefordert. Allerdings ist zur Zeit und auch für
die nächsten Reichstagswahlcn noch nicht zu hoffen, daß die Stellung der
Sozialdemokraten zur Flottenfrage den deutscheu Arbeitern die Augen öffnet
über den Verrat, den diese „Gesellen" an ihnen und dem Vaterlande üben.
Aber versuchen muß man doch, unter den Gebildeten schon jetzt das Verständnis


Grenzboten I 1398 44
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[0349] [Abbildung] Sozialdemokratie und Flotte meer dem Titel „Marineforderungen, Kolonialpolitik und Arbeiter¬ interessen," von „Parvus," ist im Verlage der Sächsischen Arbeiter¬ zeitung in Dresden nun auch von sozialdemokratischer Seite die Marinevorlage und die ihr zu Grunde liegende zukünftige See¬ handelspolitik des deutschen Reichs eingehend besprochen worden. Die Schrift ist ein nicht ungeschickt eingerührtes Bauernvergiftungsmittel, nicht schlechter und nicht besser als hundert andre, die in den letzten Jahren aus der sozialdemokratischen Rezeptur hervorgegangen sind. Aber mehr als hundert andre ist sie ein lehrreiches Beispiel erstens dafür, was die Sozialdemokratie der deutschen Jndustriearbeiterschaft weis zu machen wagen darf und ohne Zweifel auch weismachen kann, und zweitens, was wir von der in den be¬ kannten kathedersvzialistischen Kreisen immer noch für unantastbar erklärten Vaterlandsliebe und Einsicht der sozialdemokratischen Führer und namentlich der achtundvierzig Sozialdemokraten im Reichstage in solchen Fragen zu er¬ warten haben. Wenn auch in Einzelheiten der Flottenfrage diese Leute nicht unter sich und mit Herrn „Parvus" durchweg übereinstimmen mögen, so ist doch die Grundlage, ans der Herr Parvus sein Urteil über die deutsche Seehandels¬ politik aufbaut, dieselbe, mit der die Sozialdemokratie überhaupt steht und fällt: daß sie grundsätzlich die politische Macht und das politische Gedeihen des deutschen Reichs sür die soziale Revolution preisgiebt. Und damit wird thatsächlich die grundsätzliche vaterlandslose Gesinnung bei ihrer Gefolgschaft, bei der deutschen Arbeiterschaft, gefordert. Allerdings ist zur Zeit und auch für die nächsten Reichstagswahlcn noch nicht zu hoffen, daß die Stellung der Sozialdemokraten zur Flottenfrage den deutscheu Arbeitern die Augen öffnet über den Verrat, den diese „Gesellen" an ihnen und dem Vaterlande üben. Aber versuchen muß man doch, unter den Gebildeten schon jetzt das Verständnis Grenzboten I 1398 44

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/349>, abgerufen am 05.01.2025.