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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Zur neuesten Litteraturgeschichte

"cum man, was ja üblich ist, Vergleiche anstellt zwischen unsrer
heutigen schönen Litteratur und der vor hundert Jahren, so zeigt
sich jedenfalls ein großer Unterschied in den Verhältnissen. Es
giebt heute eine wissenschaftliche Geschichtschreibung, die der
Litteratur aufmerksam folgt, und die fehlte damals. Über Mangel
an Beachtung von feiten der Wissenschaft können sich also die heutigen Dichter
wahrlich nicht beklagen; sie werden wissenschaftlich bearbeitet, lange ehe sie
fertig sind. Sonst hört man wohl oft sagen, daß man Erscheinungen der
Gegenwart gegenüber noch keinen freien Blick habe, daß erst später aus größerer
Ferne sich Klein und Groß unterscheiden lasse, das Nichtige verschwinde, das
Bleibende sich zu Gruppen ordne. Aber hier lehrt man uns schon heute, daß in
unsrer deutschen schönen Litteratur 1885 eine neue Sturm- und Drangzeit ein¬
getreten, daß diese 1889 von einem entschiednen Naturalismus abgelöst worden,
und daß dann darauf weiter zuerst 1892 der Symbolismus gefolgt sei. Also
noch so nahe und schon so deutlich! Sollten aber etwa dafür die scharf ge¬
zognen Umrisse mit der Zeit verschwimmen, sodciß man dann -- umgekehrt! --
immer weniger, und bald gar nichts mehr von dieser ganzen Herrlichkeit sähe,
woran eine künftige Litteraturgeschichtschreibung anzuknüpfen der Mühe für
wert hielte?

Einer unsrer neuesten Dichter, der fünfunddreißigjührige Gerhart Haupt¬
mann, ist schon in mehreren, eigens über ihn geschriebnen Büchern behandelt
worden, am gründlichsten von Adolf Bartels, dessen litteraturgeschichtliche
Essays den Lesern der Grenzboten bekannt sind. Er hält (Weimar, Felder)
Hauptmann für den bedeutendsten deutschen Dichter seiner Zeit. Aber des
Dichters Freunde sind mit diesem Ergebnis der Untersuchung noch nicht ganz
zufrieden, sie finden das Urteil von Bartels im einzelnen zu scharf und zu
wenig anerkennend (die Namen können wir weglassen), während andre wieder
gerade die eingehenden und treffenden Analysen für das Wertvollste an seinem
Vnche halten werden und dafür lieber in der Konsequenz, der allgemeinen
Schätzung Hauptmanns, nicht ganz so weit mit ihm gehen möchten. Unter
allen, die die neueste Litteratur streng wissenschaftlich zu behandeln suchen,
scheint Bartels den glücklichsten Weg eingeschlagen zu haben; seine Kenntnis


Grenzboten I 1398 40


Zur neuesten Litteraturgeschichte

«cum man, was ja üblich ist, Vergleiche anstellt zwischen unsrer
heutigen schönen Litteratur und der vor hundert Jahren, so zeigt
sich jedenfalls ein großer Unterschied in den Verhältnissen. Es
giebt heute eine wissenschaftliche Geschichtschreibung, die der
Litteratur aufmerksam folgt, und die fehlte damals. Über Mangel
an Beachtung von feiten der Wissenschaft können sich also die heutigen Dichter
wahrlich nicht beklagen; sie werden wissenschaftlich bearbeitet, lange ehe sie
fertig sind. Sonst hört man wohl oft sagen, daß man Erscheinungen der
Gegenwart gegenüber noch keinen freien Blick habe, daß erst später aus größerer
Ferne sich Klein und Groß unterscheiden lasse, das Nichtige verschwinde, das
Bleibende sich zu Gruppen ordne. Aber hier lehrt man uns schon heute, daß in
unsrer deutschen schönen Litteratur 1885 eine neue Sturm- und Drangzeit ein¬
getreten, daß diese 1889 von einem entschiednen Naturalismus abgelöst worden,
und daß dann darauf weiter zuerst 1892 der Symbolismus gefolgt sei. Also
noch so nahe und schon so deutlich! Sollten aber etwa dafür die scharf ge¬
zognen Umrisse mit der Zeit verschwimmen, sodciß man dann — umgekehrt! —
immer weniger, und bald gar nichts mehr von dieser ganzen Herrlichkeit sähe,
woran eine künftige Litteraturgeschichtschreibung anzuknüpfen der Mühe für
wert hielte?

Einer unsrer neuesten Dichter, der fünfunddreißigjührige Gerhart Haupt¬
mann, ist schon in mehreren, eigens über ihn geschriebnen Büchern behandelt
worden, am gründlichsten von Adolf Bartels, dessen litteraturgeschichtliche
Essays den Lesern der Grenzboten bekannt sind. Er hält (Weimar, Felder)
Hauptmann für den bedeutendsten deutschen Dichter seiner Zeit. Aber des
Dichters Freunde sind mit diesem Ergebnis der Untersuchung noch nicht ganz
zufrieden, sie finden das Urteil von Bartels im einzelnen zu scharf und zu
wenig anerkennend (die Namen können wir weglassen), während andre wieder
gerade die eingehenden und treffenden Analysen für das Wertvollste an seinem
Vnche halten werden und dafür lieber in der Konsequenz, der allgemeinen
Schätzung Hauptmanns, nicht ganz so weit mit ihm gehen möchten. Unter
allen, die die neueste Litteratur streng wissenschaftlich zu behandeln suchen,
scheint Bartels den glücklichsten Weg eingeschlagen zu haben; seine Kenntnis


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[0317] [Abbildung] Zur neuesten Litteraturgeschichte «cum man, was ja üblich ist, Vergleiche anstellt zwischen unsrer heutigen schönen Litteratur und der vor hundert Jahren, so zeigt sich jedenfalls ein großer Unterschied in den Verhältnissen. Es giebt heute eine wissenschaftliche Geschichtschreibung, die der Litteratur aufmerksam folgt, und die fehlte damals. Über Mangel an Beachtung von feiten der Wissenschaft können sich also die heutigen Dichter wahrlich nicht beklagen; sie werden wissenschaftlich bearbeitet, lange ehe sie fertig sind. Sonst hört man wohl oft sagen, daß man Erscheinungen der Gegenwart gegenüber noch keinen freien Blick habe, daß erst später aus größerer Ferne sich Klein und Groß unterscheiden lasse, das Nichtige verschwinde, das Bleibende sich zu Gruppen ordne. Aber hier lehrt man uns schon heute, daß in unsrer deutschen schönen Litteratur 1885 eine neue Sturm- und Drangzeit ein¬ getreten, daß diese 1889 von einem entschiednen Naturalismus abgelöst worden, und daß dann darauf weiter zuerst 1892 der Symbolismus gefolgt sei. Also noch so nahe und schon so deutlich! Sollten aber etwa dafür die scharf ge¬ zognen Umrisse mit der Zeit verschwimmen, sodciß man dann — umgekehrt! — immer weniger, und bald gar nichts mehr von dieser ganzen Herrlichkeit sähe, woran eine künftige Litteraturgeschichtschreibung anzuknüpfen der Mühe für wert hielte? Einer unsrer neuesten Dichter, der fünfunddreißigjührige Gerhart Haupt¬ mann, ist schon in mehreren, eigens über ihn geschriebnen Büchern behandelt worden, am gründlichsten von Adolf Bartels, dessen litteraturgeschichtliche Essays den Lesern der Grenzboten bekannt sind. Er hält (Weimar, Felder) Hauptmann für den bedeutendsten deutschen Dichter seiner Zeit. Aber des Dichters Freunde sind mit diesem Ergebnis der Untersuchung noch nicht ganz zufrieden, sie finden das Urteil von Bartels im einzelnen zu scharf und zu wenig anerkennend (die Namen können wir weglassen), während andre wieder gerade die eingehenden und treffenden Analysen für das Wertvollste an seinem Vnche halten werden und dafür lieber in der Konsequenz, der allgemeinen Schätzung Hauptmanns, nicht ganz so weit mit ihm gehen möchten. Unter allen, die die neueste Litteratur streng wissenschaftlich zu behandeln suchen, scheint Bartels den glücklichsten Weg eingeschlagen zu haben; seine Kenntnis Grenzboten I 1398 40

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/317>, abgerufen am 05.01.2025.