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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Litteratur

Knthedcrsozialisten von heute steht und fällt mit der in mühsamer zwanzig¬
jähriger Arbeit endemisch gemachten Wahuvorstellung vou der Unhaltbarkeit der
bestehende" Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung^ sie stellt und steht mit dem leicht¬
fertigen Verallgemeinern und Prvphczeicu, mit dieser, vielleicht unwissentlich, dem
Bedürfniß der "Modernen" so bereitwillig und überreichlich entsprechende" Scusatious-
macherei. Ehe sie das preisgeben, kapituliren sie lieber bedingungslos vor der
Sozialdemokratie, nachdem sie sie für "gemausert" erklärt haben.

Die neue Zeitschrift sollte die "Bekehrung des öffentlichen Geistes" nicht zum
Ausgangspunkt nehmen; sie ist ihr fernes, schwer zu erringendes Ziel. Dabei ist
der Sieg über Personen und ihre alte" "ut neue" Theorie" ganz unwesentlich.
Wir brauchen in der Hauptsache weder ein System des Pessimismus noch eins
des Optimismus. Wir brauchen endlich wieder: Ernst und Nüchternheit, gefunden
Menschenverstand und reife Lebenserfahrung, Bescheidenheit und Vorsicht in unsern
staatswisseuschaftlicheu Hörsälen und Zeitschriften. Nur dadurch werden wir zur
Bekehrung des öffentlichen Geistes, zum Sieg über das sozialistische Strebertum
aller Schattirungen gelangen. Möge die Zeitschrift der Strafprofessoren das ihrige
dazu beitragen.




Litteratur

Erinnerungen eines Krieqsgefangnen in Schon (März 18"" bis Januar 1897). Von
Giovanni Gamerra, Major der Bersnglicri usw. Aus dem Italienischen übersehe von
Hedwia Jahr. Berlin, Franz Grunert

Wer mit einem Nundreiscbillct vou vierzig oder sechzig Tagen Giltigkeit ganz
Italien durchreist, der bringt gewöhnlich keine gute Meinung von den Italienern
mit nach Hause. Wer den tüchtigsten Bestandteil von ihnen kennen lernen will,
der muß auf die fast nur mit dem internationalen Publikum, den Schnclllänferu uach
Rom und Neapel vollgestopften Schnellzuge verzichten. Den echten Italiener lernt
man während der Reise auf der Eisenbahn nur in den Personen- oder Bummel¬
zügen kennen, die übrigens nicht langsamer fahren als die deutschen. Dort hat
der Deutsche, der nicht mit Empfehlungen ausgerüstet ist, die ihm die römische" und
neapolitanische" Salons öffnen, vielleicht auch die einzige Gelegenheit, die Bekannt¬
schaft italienischer Offiziere zu machen, die, zu ihrem Lobe sei es gesagt, bei weitem
nicht so exklusiv sind wie die preußischen und sich doch durch die Gemessenheit und
Vornehmheit ihres sonst liebenswürdige" "ut mitteilsamen Wesens von der geräusch¬
vollen Beredsamkeit der Mehrzahl ihrer Landsleute vorteilhaft unterscheide". Das
Musterbeispiel eines solchen italienischen Offiziers lernen wir in dem Major
Gamerra kennen, der bei der schweren Niederlage der Italiener in der Schlacht
bei Ätna trotz tapfersten Widerstandes der Niedermetzelung durch die Schoaucr
nUgiug "ud dann fast ein ganzes Jahr in der Gefangenschaft leben mußte, bis
ihm die Stunde der Befreiung schlug. Ein französischer Offizier, der in eine
gleiche Lage geraten wäre, würde sich wie eine Art Leonidas gefeiert und die
obersten Führer als Feiglinge und Verräter gebrandmarkt habe". Major Gamerra


Litteratur

Knthedcrsozialisten von heute steht und fällt mit der in mühsamer zwanzig¬
jähriger Arbeit endemisch gemachten Wahuvorstellung vou der Unhaltbarkeit der
bestehende» Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung^ sie stellt und steht mit dem leicht¬
fertigen Verallgemeinern und Prvphczeicu, mit dieser, vielleicht unwissentlich, dem
Bedürfniß der „Modernen" so bereitwillig und überreichlich entsprechende» Scusatious-
macherei. Ehe sie das preisgeben, kapituliren sie lieber bedingungslos vor der
Sozialdemokratie, nachdem sie sie für „gemausert" erklärt haben.

Die neue Zeitschrift sollte die „Bekehrung des öffentlichen Geistes" nicht zum
Ausgangspunkt nehmen; sie ist ihr fernes, schwer zu erringendes Ziel. Dabei ist
der Sieg über Personen und ihre alte» »ut neue» Theorie» ganz unwesentlich.
Wir brauchen in der Hauptsache weder ein System des Pessimismus noch eins
des Optimismus. Wir brauchen endlich wieder: Ernst und Nüchternheit, gefunden
Menschenverstand und reife Lebenserfahrung, Bescheidenheit und Vorsicht in unsern
staatswisseuschaftlicheu Hörsälen und Zeitschriften. Nur dadurch werden wir zur
Bekehrung des öffentlichen Geistes, zum Sieg über das sozialistische Strebertum
aller Schattirungen gelangen. Möge die Zeitschrift der Strafprofessoren das ihrige
dazu beitragen.




Litteratur

Erinnerungen eines Krieqsgefangnen in Schon (März 18»» bis Januar 1897). Von
Giovanni Gamerra, Major der Bersnglicri usw. Aus dem Italienischen übersehe von
Hedwia Jahr. Berlin, Franz Grunert

Wer mit einem Nundreiscbillct vou vierzig oder sechzig Tagen Giltigkeit ganz
Italien durchreist, der bringt gewöhnlich keine gute Meinung von den Italienern
mit nach Hause. Wer den tüchtigsten Bestandteil von ihnen kennen lernen will,
der muß auf die fast nur mit dem internationalen Publikum, den Schnclllänferu uach
Rom und Neapel vollgestopften Schnellzuge verzichten. Den echten Italiener lernt
man während der Reise auf der Eisenbahn nur in den Personen- oder Bummel¬
zügen kennen, die übrigens nicht langsamer fahren als die deutschen. Dort hat
der Deutsche, der nicht mit Empfehlungen ausgerüstet ist, die ihm die römische» und
neapolitanische» Salons öffnen, vielleicht auch die einzige Gelegenheit, die Bekannt¬
schaft italienischer Offiziere zu machen, die, zu ihrem Lobe sei es gesagt, bei weitem
nicht so exklusiv sind wie die preußischen und sich doch durch die Gemessenheit und
Vornehmheit ihres sonst liebenswürdige» »ut mitteilsamen Wesens von der geräusch¬
vollen Beredsamkeit der Mehrzahl ihrer Landsleute vorteilhaft unterscheide». Das
Musterbeispiel eines solchen italienischen Offiziers lernen wir in dem Major
Gamerra kennen, der bei der schweren Niederlage der Italiener in der Schlacht
bei Ätna trotz tapfersten Widerstandes der Niedermetzelung durch die Schoaucr
nUgiug »ud dann fast ein ganzes Jahr in der Gefangenschaft leben mußte, bis
ihm die Stunde der Befreiung schlug. Ein französischer Offizier, der in eine
gleiche Lage geraten wäre, würde sich wie eine Art Leonidas gefeiert und die
obersten Führer als Feiglinge und Verräter gebrandmarkt habe». Major Gamerra


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[0291] Litteratur Knthedcrsozialisten von heute steht und fällt mit der in mühsamer zwanzig¬ jähriger Arbeit endemisch gemachten Wahuvorstellung vou der Unhaltbarkeit der bestehende» Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung^ sie stellt und steht mit dem leicht¬ fertigen Verallgemeinern und Prvphczeicu, mit dieser, vielleicht unwissentlich, dem Bedürfniß der „Modernen" so bereitwillig und überreichlich entsprechende» Scusatious- macherei. Ehe sie das preisgeben, kapituliren sie lieber bedingungslos vor der Sozialdemokratie, nachdem sie sie für „gemausert" erklärt haben. Die neue Zeitschrift sollte die „Bekehrung des öffentlichen Geistes" nicht zum Ausgangspunkt nehmen; sie ist ihr fernes, schwer zu erringendes Ziel. Dabei ist der Sieg über Personen und ihre alte» »ut neue» Theorie» ganz unwesentlich. Wir brauchen in der Hauptsache weder ein System des Pessimismus noch eins des Optimismus. Wir brauchen endlich wieder: Ernst und Nüchternheit, gefunden Menschenverstand und reife Lebenserfahrung, Bescheidenheit und Vorsicht in unsern staatswisseuschaftlicheu Hörsälen und Zeitschriften. Nur dadurch werden wir zur Bekehrung des öffentlichen Geistes, zum Sieg über das sozialistische Strebertum aller Schattirungen gelangen. Möge die Zeitschrift der Strafprofessoren das ihrige dazu beitragen. Litteratur Erinnerungen eines Krieqsgefangnen in Schon (März 18»» bis Januar 1897). Von Giovanni Gamerra, Major der Bersnglicri usw. Aus dem Italienischen übersehe von Hedwia Jahr. Berlin, Franz Grunert Wer mit einem Nundreiscbillct vou vierzig oder sechzig Tagen Giltigkeit ganz Italien durchreist, der bringt gewöhnlich keine gute Meinung von den Italienern mit nach Hause. Wer den tüchtigsten Bestandteil von ihnen kennen lernen will, der muß auf die fast nur mit dem internationalen Publikum, den Schnclllänferu uach Rom und Neapel vollgestopften Schnellzuge verzichten. Den echten Italiener lernt man während der Reise auf der Eisenbahn nur in den Personen- oder Bummel¬ zügen kennen, die übrigens nicht langsamer fahren als die deutschen. Dort hat der Deutsche, der nicht mit Empfehlungen ausgerüstet ist, die ihm die römische» und neapolitanische» Salons öffnen, vielleicht auch die einzige Gelegenheit, die Bekannt¬ schaft italienischer Offiziere zu machen, die, zu ihrem Lobe sei es gesagt, bei weitem nicht so exklusiv sind wie die preußischen und sich doch durch die Gemessenheit und Vornehmheit ihres sonst liebenswürdige» »ut mitteilsamen Wesens von der geräusch¬ vollen Beredsamkeit der Mehrzahl ihrer Landsleute vorteilhaft unterscheide». Das Musterbeispiel eines solchen italienischen Offiziers lernen wir in dem Major Gamerra kennen, der bei der schweren Niederlage der Italiener in der Schlacht bei Ätna trotz tapfersten Widerstandes der Niedermetzelung durch die Schoaucr nUgiug »ud dann fast ein ganzes Jahr in der Gefangenschaft leben mußte, bis ihm die Stunde der Befreiung schlug. Ein französischer Offizier, der in eine gleiche Lage geraten wäre, würde sich wie eine Art Leonidas gefeiert und die obersten Führer als Feiglinge und Verräter gebrandmarkt habe». Major Gamerra

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/291>, abgerufen am 05.01.2025.