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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Wieviel Rekruten stellt die Landwirtschaft?

us der Feder des Münchner Nationalökonomen und Nniversitäts-
professvrs Dr. Lujo Brentano erschien in Ur. 5 der Nation vom
30. Oktober vorigen Jahres ein Artikel, über den bis heute die
Gemüter uoch nicht zur Ruhe gekommen sind. In Presse und
Zeitschriften wurde in mehr oder minder leidenschaftlicher Weise
Stellung dazu genommen, ohne daß eine erkennbare Klärung der Sachlage ein¬
getreten wäre. Brentano hatte nämlich statistisch die Frage untersucht, ob
dnrch das von der letzten Berufszählung (18W) festgestellte starke Wachstum
unsrer Industrie, das einen Übergang vom Agrarstaat zum Industriestaat
bedeute, unsre Kriegstüchtigkeit gefährdet werde.

Da er aus seinen Zahlen mehr herausliest, als darin ist, und das, was
darin ist, nur eiuen Teil des Themas erledigt, so ist eine nochmalige und ein¬
gehendere Würdigung der Arbeit um so mehr geboten, als der vor der Thür
stehende Wahlkampf sicherlich die Folgerungen Brentanos in der üblichen Un¬
verfrorenheit ausnutzen wird.

Sein Gedanke war der, daß industrielle Thätigkeit mehr Menschen auf
einer gegebnen Flüche ernähren könne als landwirtschaftliche, und daß deshalb
unser Staat aus seiner jetzt zahlreichern industriellen Bevölkerung auch die
größere Zahl von Rekruten erhalten werde. Brentano stellte in der That auch
fest, daß die überwiegend industriellen Gebiete schon jetzt doppelt soviel aus
ihnen gebürtige Rekruten aufgebracht haben als die landwirtschaftlichen. Es
sei deshalb verkehrt, zu glauben, der Übergang vom Agrarstaat zum Industrie¬
staat schwache die deutsche Wehrkraft, er hebe sie sogar. Wenn in der Industrie
verhältnismäßig vielleicht auch weniger Taugliche zu finden seien, die größere
Zahl der Bevölkerung brächte es mit sich, daß die absolute Zahl der Taug¬
lichen größer wäre, als die der Landwirtschaft.

Was hat er damit aber geleistet? Er hat das Thema von der Gefährdung
der Kriegstüchtigkeit in seiner engsten Fassung betrachtet, nämlich ob die körper¬
liche Tauglichkeit mit dem Übergang vom Agrarstaat zum Industriestaat zurück¬
gehe. Streng genommen beweisen seine Zahlen nicht einmal das Gegenteil, denn
es liegt dabei die wunderliche Annahme zu Grunde, daß die industrielle Thätigkeit
ihren schädlichen Einfluß grob und greifbar gewissermaßen in dem Augenblicke
schon in der Zahl der Rekruten ausspreche, wo sie durch ihr Wachstum




Wieviel Rekruten stellt die Landwirtschaft?

us der Feder des Münchner Nationalökonomen und Nniversitäts-
professvrs Dr. Lujo Brentano erschien in Ur. 5 der Nation vom
30. Oktober vorigen Jahres ein Artikel, über den bis heute die
Gemüter uoch nicht zur Ruhe gekommen sind. In Presse und
Zeitschriften wurde in mehr oder minder leidenschaftlicher Weise
Stellung dazu genommen, ohne daß eine erkennbare Klärung der Sachlage ein¬
getreten wäre. Brentano hatte nämlich statistisch die Frage untersucht, ob
dnrch das von der letzten Berufszählung (18W) festgestellte starke Wachstum
unsrer Industrie, das einen Übergang vom Agrarstaat zum Industriestaat
bedeute, unsre Kriegstüchtigkeit gefährdet werde.

Da er aus seinen Zahlen mehr herausliest, als darin ist, und das, was
darin ist, nur eiuen Teil des Themas erledigt, so ist eine nochmalige und ein¬
gehendere Würdigung der Arbeit um so mehr geboten, als der vor der Thür
stehende Wahlkampf sicherlich die Folgerungen Brentanos in der üblichen Un¬
verfrorenheit ausnutzen wird.

Sein Gedanke war der, daß industrielle Thätigkeit mehr Menschen auf
einer gegebnen Flüche ernähren könne als landwirtschaftliche, und daß deshalb
unser Staat aus seiner jetzt zahlreichern industriellen Bevölkerung auch die
größere Zahl von Rekruten erhalten werde. Brentano stellte in der That auch
fest, daß die überwiegend industriellen Gebiete schon jetzt doppelt soviel aus
ihnen gebürtige Rekruten aufgebracht haben als die landwirtschaftlichen. Es
sei deshalb verkehrt, zu glauben, der Übergang vom Agrarstaat zum Industrie¬
staat schwache die deutsche Wehrkraft, er hebe sie sogar. Wenn in der Industrie
verhältnismäßig vielleicht auch weniger Taugliche zu finden seien, die größere
Zahl der Bevölkerung brächte es mit sich, daß die absolute Zahl der Taug¬
lichen größer wäre, als die der Landwirtschaft.

Was hat er damit aber geleistet? Er hat das Thema von der Gefährdung
der Kriegstüchtigkeit in seiner engsten Fassung betrachtet, nämlich ob die körper¬
liche Tauglichkeit mit dem Übergang vom Agrarstaat zum Industriestaat zurück¬
gehe. Streng genommen beweisen seine Zahlen nicht einmal das Gegenteil, denn
es liegt dabei die wunderliche Annahme zu Grunde, daß die industrielle Thätigkeit
ihren schädlichen Einfluß grob und greifbar gewissermaßen in dem Augenblicke
schon in der Zahl der Rekruten ausspreche, wo sie durch ihr Wachstum


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[0209] [Abbildung] Wieviel Rekruten stellt die Landwirtschaft? us der Feder des Münchner Nationalökonomen und Nniversitäts- professvrs Dr. Lujo Brentano erschien in Ur. 5 der Nation vom 30. Oktober vorigen Jahres ein Artikel, über den bis heute die Gemüter uoch nicht zur Ruhe gekommen sind. In Presse und Zeitschriften wurde in mehr oder minder leidenschaftlicher Weise Stellung dazu genommen, ohne daß eine erkennbare Klärung der Sachlage ein¬ getreten wäre. Brentano hatte nämlich statistisch die Frage untersucht, ob dnrch das von der letzten Berufszählung (18W) festgestellte starke Wachstum unsrer Industrie, das einen Übergang vom Agrarstaat zum Industriestaat bedeute, unsre Kriegstüchtigkeit gefährdet werde. Da er aus seinen Zahlen mehr herausliest, als darin ist, und das, was darin ist, nur eiuen Teil des Themas erledigt, so ist eine nochmalige und ein¬ gehendere Würdigung der Arbeit um so mehr geboten, als der vor der Thür stehende Wahlkampf sicherlich die Folgerungen Brentanos in der üblichen Un¬ verfrorenheit ausnutzen wird. Sein Gedanke war der, daß industrielle Thätigkeit mehr Menschen auf einer gegebnen Flüche ernähren könne als landwirtschaftliche, und daß deshalb unser Staat aus seiner jetzt zahlreichern industriellen Bevölkerung auch die größere Zahl von Rekruten erhalten werde. Brentano stellte in der That auch fest, daß die überwiegend industriellen Gebiete schon jetzt doppelt soviel aus ihnen gebürtige Rekruten aufgebracht haben als die landwirtschaftlichen. Es sei deshalb verkehrt, zu glauben, der Übergang vom Agrarstaat zum Industrie¬ staat schwache die deutsche Wehrkraft, er hebe sie sogar. Wenn in der Industrie verhältnismäßig vielleicht auch weniger Taugliche zu finden seien, die größere Zahl der Bevölkerung brächte es mit sich, daß die absolute Zahl der Taug¬ lichen größer wäre, als die der Landwirtschaft. Was hat er damit aber geleistet? Er hat das Thema von der Gefährdung der Kriegstüchtigkeit in seiner engsten Fassung betrachtet, nämlich ob die körper¬ liche Tauglichkeit mit dem Übergang vom Agrarstaat zum Industriestaat zurück¬ gehe. Streng genommen beweisen seine Zahlen nicht einmal das Gegenteil, denn es liegt dabei die wunderliche Annahme zu Grunde, daß die industrielle Thätigkeit ihren schädlichen Einfluß grob und greifbar gewissermaßen in dem Augenblicke schon in der Zahl der Rekruten ausspreche, wo sie durch ihr Wachstum

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/209>, abgerufen am 05.01.2025.