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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Das deutsche Dorfwirtshaus

finden läßt. Es liegt mir fern, mythischen Ursprung von Sagen überhaupt
bestreiten zu wollen; aber die Mythen, die wir für alt- oder gemeingermanisch
halten dürfen, sind sämtlich sehr einfach und durchsichtig. schoben wir den
darin auftretenden mythischen Wesen Menschen unter, so würden wir auch eine
sehr einfache Sage erhalten, die das Kennzeichen ihres Ursprungs an der Stirn
tragen würde. Solcher einfacher vermenschlichter Mythen lassen sich zwar
manche in unsern Märchen nachweisen, in unsrer Heldensage aber, außer in
Fallen, wo sie äußerlich angeknüpft sind, keine.

Verwickeltere Mythen aber, wie sie als Wurzeln für die Siegfriedsage
erforderlich wären, treten uns wohl in Skandinavien entgegen, aber nicht in
den übrigen Teilen der germanischen Welt. Skandinavien hat aber auch die
urgermanischen Vorstellungen mehrere Jahrhunderte länger bewahrt als Eng¬
land und Deutschland und hat in dieser Zeit mit den unter dem Einflüsse
der antiken Kultur und des Christentums stehenden Teilen Europas ständig
in Beziehung gestanden; es hat also für die Entwicklung solcher Mythen die
nötige Zeit und auch die nötige Anregung gehabt. Falsch wäre es daher,
wenn man skandinavisch-heidnische Vorstellungen ohne weiteres für urgermanisch
erklären wollte. Der urgermanische Mytheubestaud scheint vielmehr sehr ein¬
fach und nur von schattenhaften Umrissen gewesen zu sein, also nicht sonderlich
geeignet, um, vermenschlicht, eine entwicklungsfähige Sage zu erzeugen.

Wir sind also wohl berechtigt, von den zu Anfang erwähnten drei
Gesichtspunkten der Sagenforschnng für die deutsche Heldensage den mythischen
in der Hauptsache abzuweisen; von den beiden andern aber ist der geschicht¬
liche anzuwenden für die Betrachtung des Ursprungs, der poetische für die der
Weiterentwicklung der Sage.




Das deutsche Dorfwirtshaus
Line Wanderstudie 3

it der in den fünfziger Jahren leise einsetzenden, dann aber mit
jedem Jahr rascher anschwellenden Bewegung der sommerlichen
Vergnügungsreisenden aus den Städten aufs Land, aus den
Ebenen ins Gebirge und ans Meer beginnt eine neue Ära des
deutschen Wirtshauses. Es hat sich vervielfältigt, vergrößert,
verfeinert, verteuert. Die Zunahme der Volkszahl drängt auch die Räume
des Wirtshauses zur Vergrößerung, damit hat besonders in Mitteldeutschland


Das deutsche Dorfwirtshaus

finden läßt. Es liegt mir fern, mythischen Ursprung von Sagen überhaupt
bestreiten zu wollen; aber die Mythen, die wir für alt- oder gemeingermanisch
halten dürfen, sind sämtlich sehr einfach und durchsichtig. schoben wir den
darin auftretenden mythischen Wesen Menschen unter, so würden wir auch eine
sehr einfache Sage erhalten, die das Kennzeichen ihres Ursprungs an der Stirn
tragen würde. Solcher einfacher vermenschlichter Mythen lassen sich zwar
manche in unsern Märchen nachweisen, in unsrer Heldensage aber, außer in
Fallen, wo sie äußerlich angeknüpft sind, keine.

Verwickeltere Mythen aber, wie sie als Wurzeln für die Siegfriedsage
erforderlich wären, treten uns wohl in Skandinavien entgegen, aber nicht in
den übrigen Teilen der germanischen Welt. Skandinavien hat aber auch die
urgermanischen Vorstellungen mehrere Jahrhunderte länger bewahrt als Eng¬
land und Deutschland und hat in dieser Zeit mit den unter dem Einflüsse
der antiken Kultur und des Christentums stehenden Teilen Europas ständig
in Beziehung gestanden; es hat also für die Entwicklung solcher Mythen die
nötige Zeit und auch die nötige Anregung gehabt. Falsch wäre es daher,
wenn man skandinavisch-heidnische Vorstellungen ohne weiteres für urgermanisch
erklären wollte. Der urgermanische Mytheubestaud scheint vielmehr sehr ein¬
fach und nur von schattenhaften Umrissen gewesen zu sein, also nicht sonderlich
geeignet, um, vermenschlicht, eine entwicklungsfähige Sage zu erzeugen.

Wir sind also wohl berechtigt, von den zu Anfang erwähnten drei
Gesichtspunkten der Sagenforschnng für die deutsche Heldensage den mythischen
in der Hauptsache abzuweisen; von den beiden andern aber ist der geschicht¬
liche anzuwenden für die Betrachtung des Ursprungs, der poetische für die der
Weiterentwicklung der Sage.




Das deutsche Dorfwirtshaus
Line Wanderstudie 3

it der in den fünfziger Jahren leise einsetzenden, dann aber mit
jedem Jahr rascher anschwellenden Bewegung der sommerlichen
Vergnügungsreisenden aus den Städten aufs Land, aus den
Ebenen ins Gebirge und ans Meer beginnt eine neue Ära des
deutschen Wirtshauses. Es hat sich vervielfältigt, vergrößert,
verfeinert, verteuert. Die Zunahme der Volkszahl drängt auch die Räume
des Wirtshauses zur Vergrößerung, damit hat besonders in Mitteldeutschland


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[0151] Das deutsche Dorfwirtshaus finden läßt. Es liegt mir fern, mythischen Ursprung von Sagen überhaupt bestreiten zu wollen; aber die Mythen, die wir für alt- oder gemeingermanisch halten dürfen, sind sämtlich sehr einfach und durchsichtig. schoben wir den darin auftretenden mythischen Wesen Menschen unter, so würden wir auch eine sehr einfache Sage erhalten, die das Kennzeichen ihres Ursprungs an der Stirn tragen würde. Solcher einfacher vermenschlichter Mythen lassen sich zwar manche in unsern Märchen nachweisen, in unsrer Heldensage aber, außer in Fallen, wo sie äußerlich angeknüpft sind, keine. Verwickeltere Mythen aber, wie sie als Wurzeln für die Siegfriedsage erforderlich wären, treten uns wohl in Skandinavien entgegen, aber nicht in den übrigen Teilen der germanischen Welt. Skandinavien hat aber auch die urgermanischen Vorstellungen mehrere Jahrhunderte länger bewahrt als Eng¬ land und Deutschland und hat in dieser Zeit mit den unter dem Einflüsse der antiken Kultur und des Christentums stehenden Teilen Europas ständig in Beziehung gestanden; es hat also für die Entwicklung solcher Mythen die nötige Zeit und auch die nötige Anregung gehabt. Falsch wäre es daher, wenn man skandinavisch-heidnische Vorstellungen ohne weiteres für urgermanisch erklären wollte. Der urgermanische Mytheubestaud scheint vielmehr sehr ein¬ fach und nur von schattenhaften Umrissen gewesen zu sein, also nicht sonderlich geeignet, um, vermenschlicht, eine entwicklungsfähige Sage zu erzeugen. Wir sind also wohl berechtigt, von den zu Anfang erwähnten drei Gesichtspunkten der Sagenforschnng für die deutsche Heldensage den mythischen in der Hauptsache abzuweisen; von den beiden andern aber ist der geschicht¬ liche anzuwenden für die Betrachtung des Ursprungs, der poetische für die der Weiterentwicklung der Sage. Das deutsche Dorfwirtshaus Line Wanderstudie 3 it der in den fünfziger Jahren leise einsetzenden, dann aber mit jedem Jahr rascher anschwellenden Bewegung der sommerlichen Vergnügungsreisenden aus den Städten aufs Land, aus den Ebenen ins Gebirge und ans Meer beginnt eine neue Ära des deutschen Wirtshauses. Es hat sich vervielfältigt, vergrößert, verfeinert, verteuert. Die Zunahme der Volkszahl drängt auch die Räume des Wirtshauses zur Vergrößerung, damit hat besonders in Mitteldeutschland

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/151>, abgerufen am 05.01.2025.