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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Vererbung

sie erblickt darin ganz sicher grobe Mißhandlung; eine gröber angelegte Person
sieht vielleicht in der Ohrfeige, die ihr der Mann hin und wieder erteilt, nichts
Verletzendes, jedenfalls keine Mißhandlung. Aber wie ist es dem Richter
möglich, das Zartgefühl der Klägerinnen richtig zu beurteilen? Er müßte ihr
ganzes Leben, nicht nur ihre Bildung, sondern namentlich auch ihr Empfindungs-
leben kennen, um einen einigermaßen richtigen Maßstab zu finden. Es kommt
hier auch durchaus nicht bloß auf die soziale Stellung oder die äußere Vüduug
an. Die rein formale Behandlung der heutigen Ehescheidungsprozesse laßt
nicht darauf schließen, daß der Richter in Zukunft solche psychologische Rätsel
M lösen versuchen werde, wenn er nicht von der Wichtigkeit der hier auf¬
geworfnen Fragen vollständig durchdrungen ist. Erst wenn sie alle genügend
und richtig beantwortet sind, können wir endlich auf die zurückgehen, von
der wir ausgegangen sind: Wann teilt eine Ehefrau den Wohnsitz ihres
Mannes?

Mit alledem soll das bürgerliche Gesetzbuch in keiner Weise angegriffen
oder herabgesetzt werden. Um eine allen Landesteilen entsprechende Einheit
des Rechts zu schaffen, war es gewiß richtiger, Grundsätze aufzustellen und
Spezialisirung möglichst zu vermeiden. Aber die Anerkennung dieses Ver¬
fahrens darf uns nicht abhalten, seine Folgerungen in jeder Richtung zu ziehen,
und wir dürfen uns nicht dem Wahne hingeben, als ob nun in der neuen
Gesetzgebung das ganze weite Gebiet des Privatrechts niedergelegt sei. Im
Gegenteil, je bescheidner wir in dieser Hinsicht denken, je weniger wir unsre
Rechtszustände über die anscheinend ungeordneteren der englischen Rechtsgebiete
erheben, und je größere Anforderungen wir an den Richter stellen, desto besser
wird sich das neue Recht bei uns einleben, desto vollständiger wird es sich
den praktischen Lebensbedürfnissen anpassen, und desto mehr werden wir uns
mit dem ungeschriebnen Recht des deutschen Reiches befreunden.




Vererbung
(Fortsetzung)

arwin hatte, wie sich die Leser erinnern werden, die Vererbung
auf folgende Weise zu erklären versucht. Jede Zelle entsendet
ein Kalanden -- er nennt es Ksmmul-i, englisch göinrnuls --,
das die Kraft hat, seinerzeit eine Zelle aufzubauen, die der Zelle
ähnlich ist, aus der es stammt. Die Keimchen wandern ins Blut
zirkuliren darin, bis sie an einem Orte abgesetzt werden, von wo sie ihre


Vererbung

sie erblickt darin ganz sicher grobe Mißhandlung; eine gröber angelegte Person
sieht vielleicht in der Ohrfeige, die ihr der Mann hin und wieder erteilt, nichts
Verletzendes, jedenfalls keine Mißhandlung. Aber wie ist es dem Richter
möglich, das Zartgefühl der Klägerinnen richtig zu beurteilen? Er müßte ihr
ganzes Leben, nicht nur ihre Bildung, sondern namentlich auch ihr Empfindungs-
leben kennen, um einen einigermaßen richtigen Maßstab zu finden. Es kommt
hier auch durchaus nicht bloß auf die soziale Stellung oder die äußere Vüduug
an. Die rein formale Behandlung der heutigen Ehescheidungsprozesse laßt
nicht darauf schließen, daß der Richter in Zukunft solche psychologische Rätsel
M lösen versuchen werde, wenn er nicht von der Wichtigkeit der hier auf¬
geworfnen Fragen vollständig durchdrungen ist. Erst wenn sie alle genügend
und richtig beantwortet sind, können wir endlich auf die zurückgehen, von
der wir ausgegangen sind: Wann teilt eine Ehefrau den Wohnsitz ihres
Mannes?

Mit alledem soll das bürgerliche Gesetzbuch in keiner Weise angegriffen
oder herabgesetzt werden. Um eine allen Landesteilen entsprechende Einheit
des Rechts zu schaffen, war es gewiß richtiger, Grundsätze aufzustellen und
Spezialisirung möglichst zu vermeiden. Aber die Anerkennung dieses Ver¬
fahrens darf uns nicht abhalten, seine Folgerungen in jeder Richtung zu ziehen,
und wir dürfen uns nicht dem Wahne hingeben, als ob nun in der neuen
Gesetzgebung das ganze weite Gebiet des Privatrechts niedergelegt sei. Im
Gegenteil, je bescheidner wir in dieser Hinsicht denken, je weniger wir unsre
Rechtszustände über die anscheinend ungeordneteren der englischen Rechtsgebiete
erheben, und je größere Anforderungen wir an den Richter stellen, desto besser
wird sich das neue Recht bei uns einleben, desto vollständiger wird es sich
den praktischen Lebensbedürfnissen anpassen, und desto mehr werden wir uns
mit dem ungeschriebnen Recht des deutschen Reiches befreunden.




Vererbung
(Fortsetzung)

arwin hatte, wie sich die Leser erinnern werden, die Vererbung
auf folgende Weise zu erklären versucht. Jede Zelle entsendet
ein Kalanden — er nennt es Ksmmul-i, englisch göinrnuls —,
das die Kraft hat, seinerzeit eine Zelle aufzubauen, die der Zelle
ähnlich ist, aus der es stammt. Die Keimchen wandern ins Blut
zirkuliren darin, bis sie an einem Orte abgesetzt werden, von wo sie ihre


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/67>, abgerufen am 27.06.2024.