Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das ungeschriebne Recht des bürgerlichen Gesetzbuches

werden kann. Wir fragen: Welches sind die durch die Ehe begründeten
Pflichten? Die ZZ 1353 u. fig. begnügen sich, nur einige davon zu nennen;
im allgemeinen liegen alle in dem einen Satz ausgedrückt: "Die Ehegatten
sind einander zur ehelichen Lebensgemeinschaft verpflichtet." Darunter ist alles
das zu verstehen, was zwei Menschen verschiednen Geschlechts im Hinblick auf
die Zwecke der Ehe einander zu leisten haben, Begriffe, die ganz von der An¬
schauung dessen, der sie anzuwenden hat, abhängen, und die in keiner Weise
fest zu umgrenzen sind. Das bürgerliche Gesetzbuch hat von der Spezialisirung
der ehelichen Rechte und Pflichten abgesehen, weil dadurch der sittliche Inhalt
der Ehe doch nicht erschöpfend bezeichnet und das richtige Verständnis und
die richtige Begrenzung der einzelnen Pflichten nur durch ein Zurückgehen
auf den allgemeinen Grundsatz gewonnen werden kann. So betonen die
Motive, die Ehegatten seien zu einer solchen Lebensgemeinschaft berechtigt und
verpflichtet, wie sie dem Wesen der Ehe entspricht, und wie sie sich unter Berück¬
sichtigung des Wesens der Ehe nach den obwaltenden Umständen für Ehegatten
gebührt und mit der rechten ehelichen Gesinnung vereinbar ist. Damit ist der
Zirkel geschlossen, aber die Fragen: Welches ist diese Gesinnung? was gebührt
sich für Ehegatten? was entspricht dem Wesen der Ehe? werden nicht beant¬
wortet. Eine weitere Frage ist: Was heißt schwere Verletzung der Pflichten?
Bei dem einen Ehepaar wird die Verletzung schwer, bei dem andern dieselbe
Verletzung sehr leicht ins Gewicht fallen. Ist der Richter da hinlänglich
Psycholog, um zu unterscheiden, wann die Verletzung als schwer anzusehen
ist? Ein objektives Kennzeichen giebt es auch hier wieder nicht. Ferner:
Was ist ehrloses oder unsittliches Verhalten? Innerhalb einer bestimmten
Gesellschaftsschicht mag ein Mensch ziemlich genau angeben können, was ein
Teil seiner Mitmenschen als ehrloses oder unsittliches Verhalten bezeichnet;
kommt er aber zu einer andern Gruppe von Zeitgenossen, so werden diese ganz
andre Maßstäbe anlegen. Wo ist der Richter, der hier das Rechte findet?
Sein Urteil wird rein persönlich sein müssen, und wir werden in kurzer Zeit
eine Unzahl von Entscheidungen haben, die die einen für, die andern gegen
sich anwenden können. Aber alle diese Voraussetzungen für die Scheidung der
Ehe sind ja nur gegeben, wenn sie derart sind, daß dem Ehegatten die Fort¬
setzung der Ehe nicht zugemutet werden kann, also auch hier wieder: Wann ist
das der Fall? Der eine Ehegatte kann mehr, der andre weniger vertragen,
und was noch wichtiger ist: der Richter muß von seinem Standpunkt aus be¬
urteilen, ob er die Zumutung der Fortsetzung der Ehe an einen Ehegatten
stellen will oder nicht. Eine Art von Erklärung, was unter Verletzung der
Pflichten zu verstehen sei, giebt der Schlußsatz des Z 1568, d. h. es ist eigentlich
mehr ein Beispiel, wenn gesagt wird: "Als schwere Verletzung der Pflichten
gilt auch grobe Mißhandlung." Ja was ist denn grobe Mißhandlung? Eine
feinfühlende Frau wird sich nicht gefallen lassen, daß sie ihr Mann schlägt,


Das ungeschriebne Recht des bürgerlichen Gesetzbuches

werden kann. Wir fragen: Welches sind die durch die Ehe begründeten
Pflichten? Die ZZ 1353 u. fig. begnügen sich, nur einige davon zu nennen;
im allgemeinen liegen alle in dem einen Satz ausgedrückt: „Die Ehegatten
sind einander zur ehelichen Lebensgemeinschaft verpflichtet." Darunter ist alles
das zu verstehen, was zwei Menschen verschiednen Geschlechts im Hinblick auf
die Zwecke der Ehe einander zu leisten haben, Begriffe, die ganz von der An¬
schauung dessen, der sie anzuwenden hat, abhängen, und die in keiner Weise
fest zu umgrenzen sind. Das bürgerliche Gesetzbuch hat von der Spezialisirung
der ehelichen Rechte und Pflichten abgesehen, weil dadurch der sittliche Inhalt
der Ehe doch nicht erschöpfend bezeichnet und das richtige Verständnis und
die richtige Begrenzung der einzelnen Pflichten nur durch ein Zurückgehen
auf den allgemeinen Grundsatz gewonnen werden kann. So betonen die
Motive, die Ehegatten seien zu einer solchen Lebensgemeinschaft berechtigt und
verpflichtet, wie sie dem Wesen der Ehe entspricht, und wie sie sich unter Berück¬
sichtigung des Wesens der Ehe nach den obwaltenden Umständen für Ehegatten
gebührt und mit der rechten ehelichen Gesinnung vereinbar ist. Damit ist der
Zirkel geschlossen, aber die Fragen: Welches ist diese Gesinnung? was gebührt
sich für Ehegatten? was entspricht dem Wesen der Ehe? werden nicht beant¬
wortet. Eine weitere Frage ist: Was heißt schwere Verletzung der Pflichten?
Bei dem einen Ehepaar wird die Verletzung schwer, bei dem andern dieselbe
Verletzung sehr leicht ins Gewicht fallen. Ist der Richter da hinlänglich
Psycholog, um zu unterscheiden, wann die Verletzung als schwer anzusehen
ist? Ein objektives Kennzeichen giebt es auch hier wieder nicht. Ferner:
Was ist ehrloses oder unsittliches Verhalten? Innerhalb einer bestimmten
Gesellschaftsschicht mag ein Mensch ziemlich genau angeben können, was ein
Teil seiner Mitmenschen als ehrloses oder unsittliches Verhalten bezeichnet;
kommt er aber zu einer andern Gruppe von Zeitgenossen, so werden diese ganz
andre Maßstäbe anlegen. Wo ist der Richter, der hier das Rechte findet?
Sein Urteil wird rein persönlich sein müssen, und wir werden in kurzer Zeit
eine Unzahl von Entscheidungen haben, die die einen für, die andern gegen
sich anwenden können. Aber alle diese Voraussetzungen für die Scheidung der
Ehe sind ja nur gegeben, wenn sie derart sind, daß dem Ehegatten die Fort¬
setzung der Ehe nicht zugemutet werden kann, also auch hier wieder: Wann ist
das der Fall? Der eine Ehegatte kann mehr, der andre weniger vertragen,
und was noch wichtiger ist: der Richter muß von seinem Standpunkt aus be¬
urteilen, ob er die Zumutung der Fortsetzung der Ehe an einen Ehegatten
stellen will oder nicht. Eine Art von Erklärung, was unter Verletzung der
Pflichten zu verstehen sei, giebt der Schlußsatz des Z 1568, d. h. es ist eigentlich
mehr ein Beispiel, wenn gesagt wird: „Als schwere Verletzung der Pflichten
gilt auch grobe Mißhandlung." Ja was ist denn grobe Mißhandlung? Eine
feinfühlende Frau wird sich nicht gefallen lassen, daß sie ihr Mann schlägt,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0066" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/225652"/>
          <fw type="header" place="top"> Das ungeschriebne Recht des bürgerlichen Gesetzbuches</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_156" prev="#ID_155" next="#ID_157"> werden kann. Wir fragen: Welches sind die durch die Ehe begründeten<lb/>
Pflichten? Die ZZ 1353 u. fig. begnügen sich, nur einige davon zu nennen;<lb/>
im allgemeinen liegen alle in dem einen Satz ausgedrückt: &#x201E;Die Ehegatten<lb/>
sind einander zur ehelichen Lebensgemeinschaft verpflichtet." Darunter ist alles<lb/>
das zu verstehen, was zwei Menschen verschiednen Geschlechts im Hinblick auf<lb/>
die Zwecke der Ehe einander zu leisten haben, Begriffe, die ganz von der An¬<lb/>
schauung dessen, der sie anzuwenden hat, abhängen, und die in keiner Weise<lb/>
fest zu umgrenzen sind. Das bürgerliche Gesetzbuch hat von der Spezialisirung<lb/>
der ehelichen Rechte und Pflichten abgesehen, weil dadurch der sittliche Inhalt<lb/>
der Ehe doch nicht erschöpfend bezeichnet und das richtige Verständnis und<lb/>
die richtige Begrenzung der einzelnen Pflichten nur durch ein Zurückgehen<lb/>
auf den allgemeinen Grundsatz gewonnen werden kann. So betonen die<lb/>
Motive, die Ehegatten seien zu einer solchen Lebensgemeinschaft berechtigt und<lb/>
verpflichtet, wie sie dem Wesen der Ehe entspricht, und wie sie sich unter Berück¬<lb/>
sichtigung des Wesens der Ehe nach den obwaltenden Umständen für Ehegatten<lb/>
gebührt und mit der rechten ehelichen Gesinnung vereinbar ist. Damit ist der<lb/>
Zirkel geschlossen, aber die Fragen: Welches ist diese Gesinnung? was gebührt<lb/>
sich für Ehegatten? was entspricht dem Wesen der Ehe? werden nicht beant¬<lb/>
wortet. Eine weitere Frage ist: Was heißt schwere Verletzung der Pflichten?<lb/>
Bei dem einen Ehepaar wird die Verletzung schwer, bei dem andern dieselbe<lb/>
Verletzung sehr leicht ins Gewicht fallen. Ist der Richter da hinlänglich<lb/>
Psycholog, um zu unterscheiden, wann die Verletzung als schwer anzusehen<lb/>
ist? Ein objektives Kennzeichen giebt es auch hier wieder nicht. Ferner:<lb/>
Was ist ehrloses oder unsittliches Verhalten? Innerhalb einer bestimmten<lb/>
Gesellschaftsschicht mag ein Mensch ziemlich genau angeben können, was ein<lb/>
Teil seiner Mitmenschen als ehrloses oder unsittliches Verhalten bezeichnet;<lb/>
kommt er aber zu einer andern Gruppe von Zeitgenossen, so werden diese ganz<lb/>
andre Maßstäbe anlegen. Wo ist der Richter, der hier das Rechte findet?<lb/>
Sein Urteil wird rein persönlich sein müssen, und wir werden in kurzer Zeit<lb/>
eine Unzahl von Entscheidungen haben, die die einen für, die andern gegen<lb/>
sich anwenden können. Aber alle diese Voraussetzungen für die Scheidung der<lb/>
Ehe sind ja nur gegeben, wenn sie derart sind, daß dem Ehegatten die Fort¬<lb/>
setzung der Ehe nicht zugemutet werden kann, also auch hier wieder: Wann ist<lb/>
das der Fall? Der eine Ehegatte kann mehr, der andre weniger vertragen,<lb/>
und was noch wichtiger ist: der Richter muß von seinem Standpunkt aus be¬<lb/>
urteilen, ob er die Zumutung der Fortsetzung der Ehe an einen Ehegatten<lb/>
stellen will oder nicht. Eine Art von Erklärung, was unter Verletzung der<lb/>
Pflichten zu verstehen sei, giebt der Schlußsatz des Z 1568, d. h. es ist eigentlich<lb/>
mehr ein Beispiel, wenn gesagt wird: &#x201E;Als schwere Verletzung der Pflichten<lb/>
gilt auch grobe Mißhandlung." Ja was ist denn grobe Mißhandlung? Eine<lb/>
feinfühlende Frau wird sich nicht gefallen lassen, daß sie ihr Mann schlägt,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0066] Das ungeschriebne Recht des bürgerlichen Gesetzbuches werden kann. Wir fragen: Welches sind die durch die Ehe begründeten Pflichten? Die ZZ 1353 u. fig. begnügen sich, nur einige davon zu nennen; im allgemeinen liegen alle in dem einen Satz ausgedrückt: „Die Ehegatten sind einander zur ehelichen Lebensgemeinschaft verpflichtet." Darunter ist alles das zu verstehen, was zwei Menschen verschiednen Geschlechts im Hinblick auf die Zwecke der Ehe einander zu leisten haben, Begriffe, die ganz von der An¬ schauung dessen, der sie anzuwenden hat, abhängen, und die in keiner Weise fest zu umgrenzen sind. Das bürgerliche Gesetzbuch hat von der Spezialisirung der ehelichen Rechte und Pflichten abgesehen, weil dadurch der sittliche Inhalt der Ehe doch nicht erschöpfend bezeichnet und das richtige Verständnis und die richtige Begrenzung der einzelnen Pflichten nur durch ein Zurückgehen auf den allgemeinen Grundsatz gewonnen werden kann. So betonen die Motive, die Ehegatten seien zu einer solchen Lebensgemeinschaft berechtigt und verpflichtet, wie sie dem Wesen der Ehe entspricht, und wie sie sich unter Berück¬ sichtigung des Wesens der Ehe nach den obwaltenden Umständen für Ehegatten gebührt und mit der rechten ehelichen Gesinnung vereinbar ist. Damit ist der Zirkel geschlossen, aber die Fragen: Welches ist diese Gesinnung? was gebührt sich für Ehegatten? was entspricht dem Wesen der Ehe? werden nicht beant¬ wortet. Eine weitere Frage ist: Was heißt schwere Verletzung der Pflichten? Bei dem einen Ehepaar wird die Verletzung schwer, bei dem andern dieselbe Verletzung sehr leicht ins Gewicht fallen. Ist der Richter da hinlänglich Psycholog, um zu unterscheiden, wann die Verletzung als schwer anzusehen ist? Ein objektives Kennzeichen giebt es auch hier wieder nicht. Ferner: Was ist ehrloses oder unsittliches Verhalten? Innerhalb einer bestimmten Gesellschaftsschicht mag ein Mensch ziemlich genau angeben können, was ein Teil seiner Mitmenschen als ehrloses oder unsittliches Verhalten bezeichnet; kommt er aber zu einer andern Gruppe von Zeitgenossen, so werden diese ganz andre Maßstäbe anlegen. Wo ist der Richter, der hier das Rechte findet? Sein Urteil wird rein persönlich sein müssen, und wir werden in kurzer Zeit eine Unzahl von Entscheidungen haben, die die einen für, die andern gegen sich anwenden können. Aber alle diese Voraussetzungen für die Scheidung der Ehe sind ja nur gegeben, wenn sie derart sind, daß dem Ehegatten die Fort¬ setzung der Ehe nicht zugemutet werden kann, also auch hier wieder: Wann ist das der Fall? Der eine Ehegatte kann mehr, der andre weniger vertragen, und was noch wichtiger ist: der Richter muß von seinem Standpunkt aus be¬ urteilen, ob er die Zumutung der Fortsetzung der Ehe an einen Ehegatten stellen will oder nicht. Eine Art von Erklärung, was unter Verletzung der Pflichten zu verstehen sei, giebt der Schlußsatz des Z 1568, d. h. es ist eigentlich mehr ein Beispiel, wenn gesagt wird: „Als schwere Verletzung der Pflichten gilt auch grobe Mißhandlung." Ja was ist denn grobe Mißhandlung? Eine feinfühlende Frau wird sich nicht gefallen lassen, daß sie ihr Mann schlägt,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/66
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/66>, abgerufen am 29.06.2024.