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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

auf die großartigen, bahnbrechenden Leistungen, die das Reich auf dem weiten,
schwierigen Gebiete des Arbeiterschutzes aufzuweisen hat, nicht am wenigsten dank
der sozialen Gesinnung der deutschen Kaiser und Fürsten. Dafür fehlte natürlich
in Zürich jedes Verständnis auch den deutsch-nationalen Sozialisten. Ju blindem
Unverstand begeisterten sie sich dafür, der Sozialdemokratie und dem päpstlichen
Sozialismus die Schleppe zu tragen, ohne eine Ahnung davon, daß dieses Treiben
von dem ernsthaften Patrioten geradezu als ein Schlag ins Gesicht für das
Deutschtum empfunden werden muß, begeisterten sie sich dafür, Hand in Hand mit
denen zu gehen, die nicht müde werden zu erklären, daß sie eine unüberwindliche
Kluft trennt von der bestehenden Rechts- und Gesellschaftsordnung und ihren berufnen
Wahrern, und denen der Umsturz des neuen deutschen Reichs und Kaisertums das
wichtigste, keinen Augenblick vergessene Lvtoruw ecmsso bleibt. Es fehlte gerade noch,
daß das Reich, daß die deutschen Regierungen diesen Leuten Gefolgschaft leisteten und
sich zur Folie hergaben für die Bestrebungen der roten und schwarzen Umstürzler.
Mögen die schweizerischen Souveräne sich glücklich fühlen bei dem lauten Bravo
solcher Kongresse, das deutsche Reich und seine Leitung hat andre, ernstere Pflichten
nicht nur gegen die eigne Nation, sondern gegen die gesamte Kulturwelt. Den
Weg maßvollen, gerechten Arbeiterschutzes, den Deutschland führend betreten hat
und fortsetzt, dieses praktische Beispiel wirkt hundertmal mehr auf die zurück¬
gebliebnen Staaten und Völker als hundert solche Kongresse mit ihren rednerischen
und parteiagitatorischeu Erfolgen. Man darf gespannt darauf sein, wie sich die
Herren Gäste des Kongresses aus Deutschland zu dieser Einladung an die Regie¬
rungen stellen werden. Es soll uns nicht Wundern, wenn auch dabei die modern¬
sozialistische Verrauutheit nochmals den Sieg über den gesunden Menschenverstand
und Patriotismus davontrüge. Die bedenkliche Dosis Größenwahn, die dem
Modesozialismus innewohnt, findet bei derlei berauschenden Rede- und Ver-
brüderungsfesten, wie der Züricher Kongreß eins war, so reichlich Nahrung, daß
an eine Heilung so bald nicht zu deuten ist.


Gleichheitswahn.

In der großen französischen Revolution, wo ein Häuflein
Machthaber "aus dem Volke" denen, die diese Macht nicht anerkennen wollten,
einfach die Köpfe abschlug, wurde das berühmte Schlagwort erfunden: Freiheit,
Gleichheit, Brüderlichkeit. Mnu kann sich kaum einen krassern Gegensatz denken
als zwischen dieser feierlichen Verkündigung der Freiheit und Gleichheit unter den
Menschen und dieser schauerlichen Exekution unter denselben Menschen, zwischen der
Freiheit, die die eiuen, und der Freiheit, die die andern "meinten." Das ganze
Freiheitsgefasel hat damals doch eine so schrecklich-lustige Illustration erfahren, daß
man glauben sollte, die Menschheit wäre seit jener Zeit mit dem verdächtigen Worte
Freiheit etwas kühler und vorsichtiger umgegangen.

Aber weder Fürsten noch Völker lernen etwas aus der Geschichte. Die
Gegenwart, die gebildete sowohl wie die ungebildete, kümmert sich nicht um die
Vergangenheit. Man urteilt über die Vergangenheit, aber man hat keinen Gewinn
von ihr. Es geht den Völkern -- und zu diesen darf man doch wohl auch die
Fürsten rechnen, weil die Fürsten ja nur dort in der Natur vorkommen, wo es
auch Völker giebt -- genau wie den Einzelmenschen. Die Volker haben keinen
Nutzen von der Geschichte, so wenig wie der Einzelmensch von den Erfahrungen
feiner Eltern Nutzen hat. Denn die Geschichte ist die Erfahrung der Völker oder
sollte es wenigstens sein. Jeder Einzelmeusch fängt sozusagen sein Leben wieder
von vorn an, die Erfahrungen seiner Eltern nützen ihm nichts, weil er sich nicht


Maßgebliches und Unmaßgebliches

auf die großartigen, bahnbrechenden Leistungen, die das Reich auf dem weiten,
schwierigen Gebiete des Arbeiterschutzes aufzuweisen hat, nicht am wenigsten dank
der sozialen Gesinnung der deutschen Kaiser und Fürsten. Dafür fehlte natürlich
in Zürich jedes Verständnis auch den deutsch-nationalen Sozialisten. Ju blindem
Unverstand begeisterten sie sich dafür, der Sozialdemokratie und dem päpstlichen
Sozialismus die Schleppe zu tragen, ohne eine Ahnung davon, daß dieses Treiben
von dem ernsthaften Patrioten geradezu als ein Schlag ins Gesicht für das
Deutschtum empfunden werden muß, begeisterten sie sich dafür, Hand in Hand mit
denen zu gehen, die nicht müde werden zu erklären, daß sie eine unüberwindliche
Kluft trennt von der bestehenden Rechts- und Gesellschaftsordnung und ihren berufnen
Wahrern, und denen der Umsturz des neuen deutschen Reichs und Kaisertums das
wichtigste, keinen Augenblick vergessene Lvtoruw ecmsso bleibt. Es fehlte gerade noch,
daß das Reich, daß die deutschen Regierungen diesen Leuten Gefolgschaft leisteten und
sich zur Folie hergaben für die Bestrebungen der roten und schwarzen Umstürzler.
Mögen die schweizerischen Souveräne sich glücklich fühlen bei dem lauten Bravo
solcher Kongresse, das deutsche Reich und seine Leitung hat andre, ernstere Pflichten
nicht nur gegen die eigne Nation, sondern gegen die gesamte Kulturwelt. Den
Weg maßvollen, gerechten Arbeiterschutzes, den Deutschland führend betreten hat
und fortsetzt, dieses praktische Beispiel wirkt hundertmal mehr auf die zurück¬
gebliebnen Staaten und Völker als hundert solche Kongresse mit ihren rednerischen
und parteiagitatorischeu Erfolgen. Man darf gespannt darauf sein, wie sich die
Herren Gäste des Kongresses aus Deutschland zu dieser Einladung an die Regie¬
rungen stellen werden. Es soll uns nicht Wundern, wenn auch dabei die modern¬
sozialistische Verrauutheit nochmals den Sieg über den gesunden Menschenverstand
und Patriotismus davontrüge. Die bedenkliche Dosis Größenwahn, die dem
Modesozialismus innewohnt, findet bei derlei berauschenden Rede- und Ver-
brüderungsfesten, wie der Züricher Kongreß eins war, so reichlich Nahrung, daß
an eine Heilung so bald nicht zu deuten ist.


Gleichheitswahn.

In der großen französischen Revolution, wo ein Häuflein
Machthaber „aus dem Volke" denen, die diese Macht nicht anerkennen wollten,
einfach die Köpfe abschlug, wurde das berühmte Schlagwort erfunden: Freiheit,
Gleichheit, Brüderlichkeit. Mnu kann sich kaum einen krassern Gegensatz denken
als zwischen dieser feierlichen Verkündigung der Freiheit und Gleichheit unter den
Menschen und dieser schauerlichen Exekution unter denselben Menschen, zwischen der
Freiheit, die die eiuen, und der Freiheit, die die andern „meinten." Das ganze
Freiheitsgefasel hat damals doch eine so schrecklich-lustige Illustration erfahren, daß
man glauben sollte, die Menschheit wäre seit jener Zeit mit dem verdächtigen Worte
Freiheit etwas kühler und vorsichtiger umgegangen.

Aber weder Fürsten noch Völker lernen etwas aus der Geschichte. Die
Gegenwart, die gebildete sowohl wie die ungebildete, kümmert sich nicht um die
Vergangenheit. Man urteilt über die Vergangenheit, aber man hat keinen Gewinn
von ihr. Es geht den Völkern — und zu diesen darf man doch wohl auch die
Fürsten rechnen, weil die Fürsten ja nur dort in der Natur vorkommen, wo es
auch Völker giebt — genau wie den Einzelmenschen. Die Volker haben keinen
Nutzen von der Geschichte, so wenig wie der Einzelmensch von den Erfahrungen
feiner Eltern Nutzen hat. Denn die Geschichte ist die Erfahrung der Völker oder
sollte es wenigstens sein. Jeder Einzelmeusch fängt sozusagen sein Leben wieder
von vorn an, die Erfahrungen seiner Eltern nützen ihm nichts, weil er sich nicht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/482>, abgerufen am 27.12.2024.