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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Jeremias Gotthelf

Auch beim Geschmackssinn gehen Volksnatnr und jugendliche Natur nicht
weit aus einander. Gewissermaßen ist inulwin, non inultg, der unbewußte
Wahlspruch beider; daß er eigentlich nie so viel zu essen bekommt, wie er sich
wünscht, ist die normale Überzeugung eines rechten Knaben oder jungen
Burschen, und auch beim Volke wird ja wohl durchweg viel mehr Begierde
übrig bleiben, als befriedigt wird, und Wunsch und Phantasie ergehen sich
gern in gewaltigen Maßen, wie denn auch Festfreude nicht sein kann ohne eine
Masse der Speisen und Getränke und namentlich eine schwelgerische Zusammen¬
stellung der an sich unvereinbarsten Gaumengenüsse (mag es rinn auf Sauer¬
kohl mit Dörrobst hinauslaufen oder Spickaal mit süßen Pflaumen usw). Die
Nationalgerichte der einzelnen Landschaften entsprechen hier den Leibspeisen der
Kinder, für die diese Lieblingsspeisen wirklich ein Gegenstand sehnsüchtigen
Entzückens sind, nicht bloß, wie bei den Ausgereiften, ein gelegentlicher Reiz
neben andern; so giebt das Nationalgericht, wie geringwertig es auch an sich
sein mag, doch eine immer wiederkehrende Befriedigung, der Tag in der
Woche, wo es wiederkehrt, ist ein Festtag, und in dem Duft der kreischenden
Pfanne vergißt die ganze Familie eine Zeit lang ihre Kümmernis und vielleicht
ihren Unfrieden. Man vermag auf dieser Stufe noch mit dem ganzen Herzen
zu lieben, auch Speisen oder wenigstens Speisen. Von der Liebe zu Ge¬
tränken wollen wir nicht reden, da diese Liebe, zur Leidenschaft gesteigert,
keineswegs nur das Volk durchdringt, und da die Gewöhnung an ungeheure
Maße bei diesem Genuß unsern Gebildeten so wenig fremd ist, daß hier die
Kluft zwischen ihnen und dem Volke aufs vollkommenste überbrückt erscheint.

(Fortsetzung folgt)




Jeremias Gotthelf
v Adolf Bartels on 2

otthelfs erstes Werk "Der Bauernspiegel" ist die Geschichte eines
frühverwaisten Bauernknaben, richtiger Bauernenkels, der von
der Gemeinde aus "verthan" wird, allmählich zum Knecht empor¬
wächst, als solcher viel erlebt, darauf in französische Dienste geht
und nach der Julirevolution in seine Heimat zurückkehrt, deren
Zustände dann geschildert werden, ohne daß die Erzählung noch viel fortschritte.
"Vauernspiegel" heißt das Werk insofern mit Recht, als vor allem das Ver-


Jeremias Gotthelf

Auch beim Geschmackssinn gehen Volksnatnr und jugendliche Natur nicht
weit aus einander. Gewissermaßen ist inulwin, non inultg, der unbewußte
Wahlspruch beider; daß er eigentlich nie so viel zu essen bekommt, wie er sich
wünscht, ist die normale Überzeugung eines rechten Knaben oder jungen
Burschen, und auch beim Volke wird ja wohl durchweg viel mehr Begierde
übrig bleiben, als befriedigt wird, und Wunsch und Phantasie ergehen sich
gern in gewaltigen Maßen, wie denn auch Festfreude nicht sein kann ohne eine
Masse der Speisen und Getränke und namentlich eine schwelgerische Zusammen¬
stellung der an sich unvereinbarsten Gaumengenüsse (mag es rinn auf Sauer¬
kohl mit Dörrobst hinauslaufen oder Spickaal mit süßen Pflaumen usw). Die
Nationalgerichte der einzelnen Landschaften entsprechen hier den Leibspeisen der
Kinder, für die diese Lieblingsspeisen wirklich ein Gegenstand sehnsüchtigen
Entzückens sind, nicht bloß, wie bei den Ausgereiften, ein gelegentlicher Reiz
neben andern; so giebt das Nationalgericht, wie geringwertig es auch an sich
sein mag, doch eine immer wiederkehrende Befriedigung, der Tag in der
Woche, wo es wiederkehrt, ist ein Festtag, und in dem Duft der kreischenden
Pfanne vergißt die ganze Familie eine Zeit lang ihre Kümmernis und vielleicht
ihren Unfrieden. Man vermag auf dieser Stufe noch mit dem ganzen Herzen
zu lieben, auch Speisen oder wenigstens Speisen. Von der Liebe zu Ge¬
tränken wollen wir nicht reden, da diese Liebe, zur Leidenschaft gesteigert,
keineswegs nur das Volk durchdringt, und da die Gewöhnung an ungeheure
Maße bei diesem Genuß unsern Gebildeten so wenig fremd ist, daß hier die
Kluft zwischen ihnen und dem Volke aufs vollkommenste überbrückt erscheint.

(Fortsetzung folgt)




Jeremias Gotthelf
v Adolf Bartels on 2

otthelfs erstes Werk „Der Bauernspiegel" ist die Geschichte eines
frühverwaisten Bauernknaben, richtiger Bauernenkels, der von
der Gemeinde aus „verthan" wird, allmählich zum Knecht empor¬
wächst, als solcher viel erlebt, darauf in französische Dienste geht
und nach der Julirevolution in seine Heimat zurückkehrt, deren
Zustände dann geschildert werden, ohne daß die Erzählung noch viel fortschritte.
"Vauernspiegel" heißt das Werk insofern mit Recht, als vor allem das Ver-


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[0325] Jeremias Gotthelf Auch beim Geschmackssinn gehen Volksnatnr und jugendliche Natur nicht weit aus einander. Gewissermaßen ist inulwin, non inultg, der unbewußte Wahlspruch beider; daß er eigentlich nie so viel zu essen bekommt, wie er sich wünscht, ist die normale Überzeugung eines rechten Knaben oder jungen Burschen, und auch beim Volke wird ja wohl durchweg viel mehr Begierde übrig bleiben, als befriedigt wird, und Wunsch und Phantasie ergehen sich gern in gewaltigen Maßen, wie denn auch Festfreude nicht sein kann ohne eine Masse der Speisen und Getränke und namentlich eine schwelgerische Zusammen¬ stellung der an sich unvereinbarsten Gaumengenüsse (mag es rinn auf Sauer¬ kohl mit Dörrobst hinauslaufen oder Spickaal mit süßen Pflaumen usw). Die Nationalgerichte der einzelnen Landschaften entsprechen hier den Leibspeisen der Kinder, für die diese Lieblingsspeisen wirklich ein Gegenstand sehnsüchtigen Entzückens sind, nicht bloß, wie bei den Ausgereiften, ein gelegentlicher Reiz neben andern; so giebt das Nationalgericht, wie geringwertig es auch an sich sein mag, doch eine immer wiederkehrende Befriedigung, der Tag in der Woche, wo es wiederkehrt, ist ein Festtag, und in dem Duft der kreischenden Pfanne vergißt die ganze Familie eine Zeit lang ihre Kümmernis und vielleicht ihren Unfrieden. Man vermag auf dieser Stufe noch mit dem ganzen Herzen zu lieben, auch Speisen oder wenigstens Speisen. Von der Liebe zu Ge¬ tränken wollen wir nicht reden, da diese Liebe, zur Leidenschaft gesteigert, keineswegs nur das Volk durchdringt, und da die Gewöhnung an ungeheure Maße bei diesem Genuß unsern Gebildeten so wenig fremd ist, daß hier die Kluft zwischen ihnen und dem Volke aufs vollkommenste überbrückt erscheint. (Fortsetzung folgt) Jeremias Gotthelf v Adolf Bartels on 2 otthelfs erstes Werk „Der Bauernspiegel" ist die Geschichte eines frühverwaisten Bauernknaben, richtiger Bauernenkels, der von der Gemeinde aus „verthan" wird, allmählich zum Knecht empor¬ wächst, als solcher viel erlebt, darauf in französische Dienste geht und nach der Julirevolution in seine Heimat zurückkehrt, deren Zustände dann geschildert werden, ohne daß die Erzählung noch viel fortschritte. "Vauernspiegel" heißt das Werk insofern mit Recht, als vor allem das Ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/325>, abgerufen am 27.06.2024.