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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Ästhetisches

Sehnsucht oder stille Wehmut senkt. Zugleich lehrt uns diese Betrachtung,
wie im Wechsel der Zeiten und der Völker das menschliche Sinnen und Dichten
trotz aller Verschiedenartigkeit doch im Kerne einheitlich ist, einheitlich und an
bestimmte Bahnen gebunden, wie die Sterne selbst, die droben in unwandel¬
baren Laufe kreisen.




Ästhetisches

le Ästhetik, die Lehre von dem Schönen in der Natur und von
dem Kunstschönen, sowie von dem Verhalten des menschlichen
Geistes zu diesen beiden Gebieten, wird bekanntlich von der
Philosophie als eine ihrer Abteilungen in Anspruch genommen.
Die Philosophen haben sich in der Regel nicht bemüht, das Ver¬
ständnis ihrer Meinungen ihren Lesern durch eine einfache und klare Sprache
zu erleichtern; wer von ihnen Nutzen haben wollte, durfte sich den müh¬
samen Weg durch eine dunkle Schulterminologie nicht verdrießen lassen. Von
dieser Erdenschwere hat selbstverständlich auch die philosophische Ästhetik ihr
gutes Teil, und das ist ein Grund, warum ihre Darstellungen nicht sehr viele
Leser haben können, aber es ist nur einer. Denn außerdem wird, wer sich
trotzdem in eines dieser Bücher hineinliest, weil er über ihren Gegenstand, die
Kunst, unterrichtet sein will, bald die Erfahrung machen, daß er sich in seiner
Voraussetzung ein wenig getäuscht hat. Er dachte, es sei darin von Werken
der bildenden Kunst, von Statuen und Bildern, die Rede. Aber weder Kant,
noch Schiller, unsre wichtigsten deutschen Ästhetiker, sagen davon viel, während
z. B. Winckelmann, der mehr davon verstand, als beide zusammen, und vieles
darüber gelehrt hat, das keineswegs als Philosoph und Ästhetiker that. Man
würde auch irren, wenn man bei den heutigen Philosophen, die Ästhetik treiben,
eine wirkliche Kenntnis der vorhandnen Kunstwerke als notwendig voraussetzte;
es ist ihnen um ganz andre und ihrer Auffassung nach höher liegende Fragen
zu thun, bei denen sie die materielle Erscheinung, die dem Kunstfreunde die
Hauptsache ist, sehr wohl umgehen können. Wenn einzelne Männer, wie
Schopenhauer oder Bischer, zugleich Kenner der Kunst und Kenner der schönen
Litteratur genannt werden konnten, so war das eine rein persönliche Zugabe,
die allerdings auch ihre Ästhetik etwas anschaulicher und für den Kunstfreund
unterhaltender gemacht hat. Aber trotzdem wird sich jemand über Poesie nicht
aus Schopenhauer unterrichten wollen, sondern aus litteraturgcschichtlichen


Ästhetisches

Sehnsucht oder stille Wehmut senkt. Zugleich lehrt uns diese Betrachtung,
wie im Wechsel der Zeiten und der Völker das menschliche Sinnen und Dichten
trotz aller Verschiedenartigkeit doch im Kerne einheitlich ist, einheitlich und an
bestimmte Bahnen gebunden, wie die Sterne selbst, die droben in unwandel¬
baren Laufe kreisen.




Ästhetisches

le Ästhetik, die Lehre von dem Schönen in der Natur und von
dem Kunstschönen, sowie von dem Verhalten des menschlichen
Geistes zu diesen beiden Gebieten, wird bekanntlich von der
Philosophie als eine ihrer Abteilungen in Anspruch genommen.
Die Philosophen haben sich in der Regel nicht bemüht, das Ver¬
ständnis ihrer Meinungen ihren Lesern durch eine einfache und klare Sprache
zu erleichtern; wer von ihnen Nutzen haben wollte, durfte sich den müh¬
samen Weg durch eine dunkle Schulterminologie nicht verdrießen lassen. Von
dieser Erdenschwere hat selbstverständlich auch die philosophische Ästhetik ihr
gutes Teil, und das ist ein Grund, warum ihre Darstellungen nicht sehr viele
Leser haben können, aber es ist nur einer. Denn außerdem wird, wer sich
trotzdem in eines dieser Bücher hineinliest, weil er über ihren Gegenstand, die
Kunst, unterrichtet sein will, bald die Erfahrung machen, daß er sich in seiner
Voraussetzung ein wenig getäuscht hat. Er dachte, es sei darin von Werken
der bildenden Kunst, von Statuen und Bildern, die Rede. Aber weder Kant,
noch Schiller, unsre wichtigsten deutschen Ästhetiker, sagen davon viel, während
z. B. Winckelmann, der mehr davon verstand, als beide zusammen, und vieles
darüber gelehrt hat, das keineswegs als Philosoph und Ästhetiker that. Man
würde auch irren, wenn man bei den heutigen Philosophen, die Ästhetik treiben,
eine wirkliche Kenntnis der vorhandnen Kunstwerke als notwendig voraussetzte;
es ist ihnen um ganz andre und ihrer Auffassung nach höher liegende Fragen
zu thun, bei denen sie die materielle Erscheinung, die dem Kunstfreunde die
Hauptsache ist, sehr wohl umgehen können. Wenn einzelne Männer, wie
Schopenhauer oder Bischer, zugleich Kenner der Kunst und Kenner der schönen
Litteratur genannt werden konnten, so war das eine rein persönliche Zugabe,
die allerdings auch ihre Ästhetik etwas anschaulicher und für den Kunstfreund
unterhaltender gemacht hat. Aber trotzdem wird sich jemand über Poesie nicht
aus Schopenhauer unterrichten wollen, sondern aus litteraturgcschichtlichen


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[0182] Ästhetisches Sehnsucht oder stille Wehmut senkt. Zugleich lehrt uns diese Betrachtung, wie im Wechsel der Zeiten und der Völker das menschliche Sinnen und Dichten trotz aller Verschiedenartigkeit doch im Kerne einheitlich ist, einheitlich und an bestimmte Bahnen gebunden, wie die Sterne selbst, die droben in unwandel¬ baren Laufe kreisen. Ästhetisches le Ästhetik, die Lehre von dem Schönen in der Natur und von dem Kunstschönen, sowie von dem Verhalten des menschlichen Geistes zu diesen beiden Gebieten, wird bekanntlich von der Philosophie als eine ihrer Abteilungen in Anspruch genommen. Die Philosophen haben sich in der Regel nicht bemüht, das Ver¬ ständnis ihrer Meinungen ihren Lesern durch eine einfache und klare Sprache zu erleichtern; wer von ihnen Nutzen haben wollte, durfte sich den müh¬ samen Weg durch eine dunkle Schulterminologie nicht verdrießen lassen. Von dieser Erdenschwere hat selbstverständlich auch die philosophische Ästhetik ihr gutes Teil, und das ist ein Grund, warum ihre Darstellungen nicht sehr viele Leser haben können, aber es ist nur einer. Denn außerdem wird, wer sich trotzdem in eines dieser Bücher hineinliest, weil er über ihren Gegenstand, die Kunst, unterrichtet sein will, bald die Erfahrung machen, daß er sich in seiner Voraussetzung ein wenig getäuscht hat. Er dachte, es sei darin von Werken der bildenden Kunst, von Statuen und Bildern, die Rede. Aber weder Kant, noch Schiller, unsre wichtigsten deutschen Ästhetiker, sagen davon viel, während z. B. Winckelmann, der mehr davon verstand, als beide zusammen, und vieles darüber gelehrt hat, das keineswegs als Philosoph und Ästhetiker that. Man würde auch irren, wenn man bei den heutigen Philosophen, die Ästhetik treiben, eine wirkliche Kenntnis der vorhandnen Kunstwerke als notwendig voraussetzte; es ist ihnen um ganz andre und ihrer Auffassung nach höher liegende Fragen zu thun, bei denen sie die materielle Erscheinung, die dem Kunstfreunde die Hauptsache ist, sehr wohl umgehen können. Wenn einzelne Männer, wie Schopenhauer oder Bischer, zugleich Kenner der Kunst und Kenner der schönen Litteratur genannt werden konnten, so war das eine rein persönliche Zugabe, die allerdings auch ihre Ästhetik etwas anschaulicher und für den Kunstfreund unterhaltender gemacht hat. Aber trotzdem wird sich jemand über Poesie nicht aus Schopenhauer unterrichten wollen, sondern aus litteraturgcschichtlichen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/182>, abgerufen am 27.06.2024.