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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Erlebtes und Beobachtetes aus Rusilcin!)

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So gut wie gar keinen Anteil an diesen Bestrebungen der "Wohlthätig¬
keit/' zumal wenn sie nnter dem Banner der Nvlksaufklärung vorgehen, hat
eine Macht, die an sich berufen wäre, eine Führerstelle einzunehmen: die^ ortho¬
doxe Kirche. Sie giebt zwar ihren Segen dazu, aber das ist auch alles. Der
niedre Klerus ist selbst so unwissend und ungebildet, daß er anch gar nicht
imstande ist, eine "geistige Macht" zu bilden.

Die Macht der Kirche ist freilich ganz ungeheuer, aber nicht durch den
geistigen Inhalt ihrer Lehre, sondern ausschließlich durch den Zwang, den sie
mit Hilfe der Polizei ausübt. Der Kaiser ist das Haupt der Kirche; die Kirche
ist nicht ein Staat im Staate, sie durchdringt vielmehr bis ins kleinste das
Leben des Staats, sie ist ein Organ des Staats. Der Staat leiht ihr alle
ihm zu Gebote stehenden Machtmittel zur Erhaltung ihrer Herrschaft, aber
zugleich bedient er sich ihrer seinerseits als eines Mittels, um seine Herrschaft
zu sichern, seinen Willen durchzusetzen. Wo die Polizei versagt, da tritt die
Kirche an die Stelle der Polizei. Auch wenn der Staat liberal sein wollte,
Glaubensfreiheit einführen wollte, er könnte es nicht, ohne mit sich selbst in
Widerspruch zu geraten; und vor allem: er könnte, so lange sich nicht der
ganze Charakter deö Landes und des Volkes ändert, dieses Machtmittel einfach
nicht entbehren.

Es giebt Leute, die glauben, daß gerade von dieser Seite dem russischen
Despotismus über kurz oder lang ein schwerer Stoß drohe. Eine soziale
Frage, hörte ich sagen, werde es für Nußland in absehbarer Zeit nicht geben,
wohl aber einen Glaubenskrieg. Thatsache ist, daß die Zahl der "Altgläubigen"
oder "Raskolniki," d. h. derer, die von der um die Mitte des siebzehnten Jahr¬
hunderts durch den Patriarchen nitor durchgeführten Kirchenreformation nichts
wissen wollen, in den letzten Jahren gewaltig angeschwollen ist; ferner, daß
die "Stuudisteu," namentlich im Süden Rußlands, täglich mehr Anhänger ge¬
winnen; endlich, daß die Regierung gar nicht mehr in der Lage ist, diese" und
andern Sekten schlechtweg ihr "Unwesen" zu verbieten, daß sie es stillschweigend
geschehen lassen muß, wenn sie sich offen zu ihrem nicht-orthodoxen Glauben
bekennen. Die "Stnndisten" haben ihren Ausgangspunkt in den zahlreichen
deutschen, besonders schwäbischen Bauernkolonicn im südlichen Rußland; aber
gerade diese Kolonien bilden einen so wesentlichen Kultnrbestandleil, sie sind
dem Beutel der Steuerverwaltung so schätzbar, daß die Regierung gar nicht
auf die Thorheit verfallen kann, sie zu drangsaliren oder gar zu vernichten.

Wenn anch die Arbeiterunruhen dieses Sommers zu denken geben, so ist
es doch wohl richtig, daß die größere Gesahr dem russischen Reiche nicht ans
sozialem, sondern auf religiösem Gebiete droht. Wo religiöse Dinge ins Spiel
kommen, pflegt nach alter Erfahrung die Leidenschaft die Volksmassen schärfer
und tiefer zu erfasse" als selbst bei dem Kampf ums tägliche Brot. Es kann


Erlebtes und Beobachtetes aus Rusilcin!)

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So gut wie gar keinen Anteil an diesen Bestrebungen der „Wohlthätig¬
keit/' zumal wenn sie nnter dem Banner der Nvlksaufklärung vorgehen, hat
eine Macht, die an sich berufen wäre, eine Führerstelle einzunehmen: die^ ortho¬
doxe Kirche. Sie giebt zwar ihren Segen dazu, aber das ist auch alles. Der
niedre Klerus ist selbst so unwissend und ungebildet, daß er anch gar nicht
imstande ist, eine „geistige Macht" zu bilden.

Die Macht der Kirche ist freilich ganz ungeheuer, aber nicht durch den
geistigen Inhalt ihrer Lehre, sondern ausschließlich durch den Zwang, den sie
mit Hilfe der Polizei ausübt. Der Kaiser ist das Haupt der Kirche; die Kirche
ist nicht ein Staat im Staate, sie durchdringt vielmehr bis ins kleinste das
Leben des Staats, sie ist ein Organ des Staats. Der Staat leiht ihr alle
ihm zu Gebote stehenden Machtmittel zur Erhaltung ihrer Herrschaft, aber
zugleich bedient er sich ihrer seinerseits als eines Mittels, um seine Herrschaft
zu sichern, seinen Willen durchzusetzen. Wo die Polizei versagt, da tritt die
Kirche an die Stelle der Polizei. Auch wenn der Staat liberal sein wollte,
Glaubensfreiheit einführen wollte, er könnte es nicht, ohne mit sich selbst in
Widerspruch zu geraten; und vor allem: er könnte, so lange sich nicht der
ganze Charakter deö Landes und des Volkes ändert, dieses Machtmittel einfach
nicht entbehren.

Es giebt Leute, die glauben, daß gerade von dieser Seite dem russischen
Despotismus über kurz oder lang ein schwerer Stoß drohe. Eine soziale
Frage, hörte ich sagen, werde es für Nußland in absehbarer Zeit nicht geben,
wohl aber einen Glaubenskrieg. Thatsache ist, daß die Zahl der „Altgläubigen"
oder „Raskolniki," d. h. derer, die von der um die Mitte des siebzehnten Jahr¬
hunderts durch den Patriarchen nitor durchgeführten Kirchenreformation nichts
wissen wollen, in den letzten Jahren gewaltig angeschwollen ist; ferner, daß
die „Stuudisteu," namentlich im Süden Rußlands, täglich mehr Anhänger ge¬
winnen; endlich, daß die Regierung gar nicht mehr in der Lage ist, diese» und
andern Sekten schlechtweg ihr „Unwesen" zu verbieten, daß sie es stillschweigend
geschehen lassen muß, wenn sie sich offen zu ihrem nicht-orthodoxen Glauben
bekennen. Die „Stnndisten" haben ihren Ausgangspunkt in den zahlreichen
deutschen, besonders schwäbischen Bauernkolonicn im südlichen Rußland; aber
gerade diese Kolonien bilden einen so wesentlichen Kultnrbestandleil, sie sind
dem Beutel der Steuerverwaltung so schätzbar, daß die Regierung gar nicht
auf die Thorheit verfallen kann, sie zu drangsaliren oder gar zu vernichten.

Wenn anch die Arbeiterunruhen dieses Sommers zu denken geben, so ist
es doch wohl richtig, daß die größere Gesahr dem russischen Reiche nicht ans
sozialem, sondern auf religiösem Gebiete droht. Wo religiöse Dinge ins Spiel
kommen, pflegt nach alter Erfahrung die Leidenschaft die Volksmassen schärfer
und tiefer zu erfasse» als selbst bei dem Kampf ums tägliche Brot. Es kann


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[0084] Erlebtes und Beobachtetes aus Rusilcin!) 3 So gut wie gar keinen Anteil an diesen Bestrebungen der „Wohlthätig¬ keit/' zumal wenn sie nnter dem Banner der Nvlksaufklärung vorgehen, hat eine Macht, die an sich berufen wäre, eine Führerstelle einzunehmen: die^ ortho¬ doxe Kirche. Sie giebt zwar ihren Segen dazu, aber das ist auch alles. Der niedre Klerus ist selbst so unwissend und ungebildet, daß er anch gar nicht imstande ist, eine „geistige Macht" zu bilden. Die Macht der Kirche ist freilich ganz ungeheuer, aber nicht durch den geistigen Inhalt ihrer Lehre, sondern ausschließlich durch den Zwang, den sie mit Hilfe der Polizei ausübt. Der Kaiser ist das Haupt der Kirche; die Kirche ist nicht ein Staat im Staate, sie durchdringt vielmehr bis ins kleinste das Leben des Staats, sie ist ein Organ des Staats. Der Staat leiht ihr alle ihm zu Gebote stehenden Machtmittel zur Erhaltung ihrer Herrschaft, aber zugleich bedient er sich ihrer seinerseits als eines Mittels, um seine Herrschaft zu sichern, seinen Willen durchzusetzen. Wo die Polizei versagt, da tritt die Kirche an die Stelle der Polizei. Auch wenn der Staat liberal sein wollte, Glaubensfreiheit einführen wollte, er könnte es nicht, ohne mit sich selbst in Widerspruch zu geraten; und vor allem: er könnte, so lange sich nicht der ganze Charakter deö Landes und des Volkes ändert, dieses Machtmittel einfach nicht entbehren. Es giebt Leute, die glauben, daß gerade von dieser Seite dem russischen Despotismus über kurz oder lang ein schwerer Stoß drohe. Eine soziale Frage, hörte ich sagen, werde es für Nußland in absehbarer Zeit nicht geben, wohl aber einen Glaubenskrieg. Thatsache ist, daß die Zahl der „Altgläubigen" oder „Raskolniki," d. h. derer, die von der um die Mitte des siebzehnten Jahr¬ hunderts durch den Patriarchen nitor durchgeführten Kirchenreformation nichts wissen wollen, in den letzten Jahren gewaltig angeschwollen ist; ferner, daß die „Stuudisteu," namentlich im Süden Rußlands, täglich mehr Anhänger ge¬ winnen; endlich, daß die Regierung gar nicht mehr in der Lage ist, diese» und andern Sekten schlechtweg ihr „Unwesen" zu verbieten, daß sie es stillschweigend geschehen lassen muß, wenn sie sich offen zu ihrem nicht-orthodoxen Glauben bekennen. Die „Stnndisten" haben ihren Ausgangspunkt in den zahlreichen deutschen, besonders schwäbischen Bauernkolonicn im südlichen Rußland; aber gerade diese Kolonien bilden einen so wesentlichen Kultnrbestandleil, sie sind dem Beutel der Steuerverwaltung so schätzbar, daß die Regierung gar nicht auf die Thorheit verfallen kann, sie zu drangsaliren oder gar zu vernichten. Wenn anch die Arbeiterunruhen dieses Sommers zu denken geben, so ist es doch wohl richtig, daß die größere Gesahr dem russischen Reiche nicht ans sozialem, sondern auf religiösem Gebiete droht. Wo religiöse Dinge ins Spiel kommen, pflegt nach alter Erfahrung die Leidenschaft die Volksmassen schärfer und tiefer zu erfasse» als selbst bei dem Kampf ums tägliche Brot. Es kann

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/84>, abgerufen am 04.01.2025.