Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Erlebtes und Bcolicichtetes ans Rußland also schon sein, daß einmal religiöser Fanatismus selbst das russische Volk aus Für jetzt hat die orthodoxe Kirche noch ihre unbestrittne Herrschaft. Wohl Im Gottesdienst, in den gesamten religiösen Gebräuchen, überall vergißt Vor allem bilden die Kerzen, die man den Heiligenbildern opfert, eine Erlebtes und Bcolicichtetes ans Rußland also schon sein, daß einmal religiöser Fanatismus selbst das russische Volk aus Für jetzt hat die orthodoxe Kirche noch ihre unbestrittne Herrschaft. Wohl Im Gottesdienst, in den gesamten religiösen Gebräuchen, überall vergißt Vor allem bilden die Kerzen, die man den Heiligenbildern opfert, eine <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0085" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223669"/> <fw type="header" place="top"> Erlebtes und Bcolicichtetes ans Rußland</fw><lb/> <p xml:id="ID_241" prev="#ID_240"> also schon sein, daß einmal religiöser Fanatismus selbst das russische Volk aus<lb/> seiner Gleichgiltigkeit aufrüttelt. Aber etwas skeptisch darf mau schon sein,<lb/> denn um diese Indolenz zu überwinden, dazu gehört viel, sehr viel..</p><lb/> <p xml:id="ID_242"> Für jetzt hat die orthodoxe Kirche noch ihre unbestrittne Herrschaft. Wohl<lb/> in keinem Lande greift die Religion so in das tägliche Leben ein wie in Nu߬<lb/> land; namentlich in einer Sitte zeigt sich das: in dem Sichbelrenzen. Der Russe<lb/> bekreuzt sich vor jedem Heiligenbild, vor jeder Kirchenthür, und in jeder Straße<lb/> steht mindestens eine Kirche; er bekreuzt sich, wenn er sich zu Tisch setzt, und wenn<lb/> er wieder aufsteht, wenn er, und sei es für zehn Minuten, eine Bahnfahrt<lb/> antritt, kurz dieses äußerliche, mechanische Spiel der Hände vor der Brust<lb/> sieht man unaufhörlich und überall. Manchmal geschieht es mit Andacht, man<lb/> sieht auch oft genug einen Mushik sich an einer Kirchenthttr ans die Kniee<lb/> werfen und bis zur Erde neigen; aber vielfach schweifen die Augen neugierig<lb/> in der Welt herum, während die Hand ein-, zwei-, dreimal das Zeichen des<lb/> Kreuzes macht. ,</p><lb/> <p xml:id="ID_243"> Im Gottesdienst, in den gesamten religiösen Gebräuchen, überall vergißt<lb/> man den Inhalt über der Form. Nicht nur die Heiligen selbst werden ver¬<lb/> ehrt und um Fürbitte gebeten, das Heiligenbild als solches genießt Verehrung,<lb/> weit mehr als in der römischen Kirche. Die Heiligenbilder zu küssen ist ein<lb/> religiöser Akt. Das wunderthätige Bild der „iberischen Mutter Gottes"<lb/> in Moskau (in der iberischen Kapelle, an der Stadtmauer, dicht vor dem<lb/> „Roten Platz" am Kreml) ist zu allen Zeiten umlagert von Andächtigen, die<lb/> sich drängen, um das Glas vor dem Bilde und den Rahmen zu küssen; und<lb/> dabei hängt dort fast immer nur eine Kopie, das Original fährt meist in seiner<lb/> schwarzen Karosse, von acht Rappen gezogen (zweimal vier nebeneinander) durch<lb/> die Stadt, macht Krankenbesuche, hilft Hänser einweihen, kommt zu Toten und<lb/> Neugebornen, natürlich gegen gute Bezahlung, wenn man sich auch unter Um¬<lb/> ständen schon für ein Paar Rubel diesen Vorzug kaufen kann. In Petersburg<lb/> sah ich in der Jscmkskirche, wie hohe Würdenträger ein par Nubelscheiue zahlten,<lb/> um statt des Glases das eigentliche Bild einer ebenfalls besonders wunder-<lb/> thätigen Mutter Gottes küssen zu dürfen.</p><lb/> <p xml:id="ID_244" next="#ID_245"> Vor allem bilden die Kerzen, die man den Heiligenbildern opfert, eine<lb/> ungeheure Einnahme der Kirchen. Beim Eintritt in die Kirche kauft mau sich<lb/> ein geweihtes dünnes Licht, natürlich etwa für den zehnfachen Preis dessen,<lb/> was es wert ist, zündet es an und pflanzt es in einen der vielen kleinen Licht¬<lb/> halter vor den Bildern. Vor manchen Heiligenbildern, so vor der iberischen<lb/> Madonna, vor der Knsauschen Mutter Gottes in Petersburg, in der Kapelle<lb/> des heiligen Nikolaus in der Nikolstaja zu Moskau, brennen den ganzen Tag<lb/> ununterbrochen zwanzig bis vierzig Lichter. Da ein Lichtchen im höchsten Fall<lb/> zwanzig Minnten brennt, so kann man sich den Verbrauch ungefähr ausrechnen.<lb/> Das fordert doch eine volkswirtschaftliche Überlegung geradezu heraus; mau</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0085]
Erlebtes und Bcolicichtetes ans Rußland
also schon sein, daß einmal religiöser Fanatismus selbst das russische Volk aus
seiner Gleichgiltigkeit aufrüttelt. Aber etwas skeptisch darf mau schon sein,
denn um diese Indolenz zu überwinden, dazu gehört viel, sehr viel..
Für jetzt hat die orthodoxe Kirche noch ihre unbestrittne Herrschaft. Wohl
in keinem Lande greift die Religion so in das tägliche Leben ein wie in Nu߬
land; namentlich in einer Sitte zeigt sich das: in dem Sichbelrenzen. Der Russe
bekreuzt sich vor jedem Heiligenbild, vor jeder Kirchenthür, und in jeder Straße
steht mindestens eine Kirche; er bekreuzt sich, wenn er sich zu Tisch setzt, und wenn
er wieder aufsteht, wenn er, und sei es für zehn Minuten, eine Bahnfahrt
antritt, kurz dieses äußerliche, mechanische Spiel der Hände vor der Brust
sieht man unaufhörlich und überall. Manchmal geschieht es mit Andacht, man
sieht auch oft genug einen Mushik sich an einer Kirchenthttr ans die Kniee
werfen und bis zur Erde neigen; aber vielfach schweifen die Augen neugierig
in der Welt herum, während die Hand ein-, zwei-, dreimal das Zeichen des
Kreuzes macht. ,
Im Gottesdienst, in den gesamten religiösen Gebräuchen, überall vergißt
man den Inhalt über der Form. Nicht nur die Heiligen selbst werden ver¬
ehrt und um Fürbitte gebeten, das Heiligenbild als solches genießt Verehrung,
weit mehr als in der römischen Kirche. Die Heiligenbilder zu küssen ist ein
religiöser Akt. Das wunderthätige Bild der „iberischen Mutter Gottes"
in Moskau (in der iberischen Kapelle, an der Stadtmauer, dicht vor dem
„Roten Platz" am Kreml) ist zu allen Zeiten umlagert von Andächtigen, die
sich drängen, um das Glas vor dem Bilde und den Rahmen zu küssen; und
dabei hängt dort fast immer nur eine Kopie, das Original fährt meist in seiner
schwarzen Karosse, von acht Rappen gezogen (zweimal vier nebeneinander) durch
die Stadt, macht Krankenbesuche, hilft Hänser einweihen, kommt zu Toten und
Neugebornen, natürlich gegen gute Bezahlung, wenn man sich auch unter Um¬
ständen schon für ein Paar Rubel diesen Vorzug kaufen kann. In Petersburg
sah ich in der Jscmkskirche, wie hohe Würdenträger ein par Nubelscheiue zahlten,
um statt des Glases das eigentliche Bild einer ebenfalls besonders wunder-
thätigen Mutter Gottes küssen zu dürfen.
Vor allem bilden die Kerzen, die man den Heiligenbildern opfert, eine
ungeheure Einnahme der Kirchen. Beim Eintritt in die Kirche kauft mau sich
ein geweihtes dünnes Licht, natürlich etwa für den zehnfachen Preis dessen,
was es wert ist, zündet es an und pflanzt es in einen der vielen kleinen Licht¬
halter vor den Bildern. Vor manchen Heiligenbildern, so vor der iberischen
Madonna, vor der Knsauschen Mutter Gottes in Petersburg, in der Kapelle
des heiligen Nikolaus in der Nikolstaja zu Moskau, brennen den ganzen Tag
ununterbrochen zwanzig bis vierzig Lichter. Da ein Lichtchen im höchsten Fall
zwanzig Minnten brennt, so kann man sich den Verbrauch ungefähr ausrechnen.
Das fordert doch eine volkswirtschaftliche Überlegung geradezu heraus; mau
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