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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Weihnachtsbücher
1. Wilhelm Raabe und Heinrich Hansjakob

le Weihnachtszeit hat von Alters her bewirkt, daß sich die Menschen
darauf besinnen, was sie schon besitzen. Indem die Wünsche nach Neuem
schweifen, tritt einem unwillkürlich vor Augen, was man schon sein
nennt und im Grunde hoher schätzen muß, als alles Nenhinzukommende.
Das gilt so gut wie für Hausrat und Schmuck, auch für Bücher;
wir wissen, daß auch hier das gute Alte immer neu bleibt, da das
Bleibende und dauernd Wirksame alle bloßen Neuigkeiten hinter sich läßt. Gerade
jetzt, wo neben wenigem Gute" und Tüchtigen so viel rasch Vergängliches und voll¬
kommen Richtiges auf deu Markt gebracht wird, ist es ein erquickliches Gefühl, sich
zu vergegenwärtigen, daß daneben der ganze Schatz der poetischen Leistungen, die
nicht erst von heute und nur für morgen sind, ungemindert vorhanden ist.

Die letzten Monate haben neue Ausgaben und neue Bücher zweier Erzähler
gebracht, die beide, vor vielen, verdienen, daß der Blick der Empfänglichen wieder
einmal auf sie zurückgelenkt wird. So grundverschieden, ja gegensätzlich Wilhelm
Raabe und Heinrich Hansjakob sind, gemeinsam ist ihnen die Freude an dein Reichtum
verborgnen, nur dem tiefer dringenden Blick erkennbaren Lebens, gemeinsam ein
frischer Hauch von Gesundheit, gemeinsam die Pietät für Zustände und Überliefe¬
rungen, mit denen der "Fortschritt" gern längst aufgeräumt hätte, gemeinsam auch>
die Lust, vergangne Zeiten und Schicksale mit der gleichen Wärme zu beleben wie
die frischeste Gegenwart, gemeinsam endlich ein freilich dem Grade nach sehr ver-
schiedner, doch der gleichen Wurzel entsprossener Maugel ihrer Darstellungskunst.
Der äußere Anlaß, eine vergleichende Charakteristik beider Erzähler zu geben, liegt in
der Vollendung der neuen Ausgabe von Wilhelm Rnabes "Gesammelten Erzählungen"^)
und in dem Erscheinen einer kleinern Reihe Hcmsjakobscher Schriften;^) der innere,
wichtigere in der beständigen Zunahme des unpoetisch Prätentiösen, Überreizten,
des unnatürlich Gemachtem in unsrer Litteratur, einer Zunahme, die in gewissen
Kreisen die mißmutige Vorstellung erzeugt, daß es gar nicht mehr der Mühe
lohne, sich überhaupt noch unter den Erzeugnissen der jüngsten Zeit umzusehen.
So schlimm steht es aber doch noch nicht, und zum Beweis sei heute an die
beiden Erzähler erinnert, auf sie zurückgewiesen, wenn mau so will, obschon beide
leben und hoffentlich noch manches Jahrzehnt leben werden. Von einer Litteratur,
in der man immer nur von den "Ereignissen" des letzten Halbjahrs sprechen dürfte,




Gesammelte Erzählungen. Von Wilhelm Raabe. Drei Bände. Berlin,
I8SK--I3V7, Otto Zanke.
-
) Wilde Kirschen. Von Heinrich HanSjakob. Heidelberg, G, Weiß, 18S3. --
Schneebällen. Erste bis dritte Folge. Heidelberg, G. Weist, 1SS4, IM. -- Vauern-
blut. Heidelberg. G, Weist, 189V. -- Der Leutnant von Haste. Heidelberg, G. Weist, 18S6.


Weihnachtsbücher
1. Wilhelm Raabe und Heinrich Hansjakob

le Weihnachtszeit hat von Alters her bewirkt, daß sich die Menschen
darauf besinnen, was sie schon besitzen. Indem die Wünsche nach Neuem
schweifen, tritt einem unwillkürlich vor Augen, was man schon sein
nennt und im Grunde hoher schätzen muß, als alles Nenhinzukommende.
Das gilt so gut wie für Hausrat und Schmuck, auch für Bücher;
wir wissen, daß auch hier das gute Alte immer neu bleibt, da das
Bleibende und dauernd Wirksame alle bloßen Neuigkeiten hinter sich läßt. Gerade
jetzt, wo neben wenigem Gute» und Tüchtigen so viel rasch Vergängliches und voll¬
kommen Richtiges auf deu Markt gebracht wird, ist es ein erquickliches Gefühl, sich
zu vergegenwärtigen, daß daneben der ganze Schatz der poetischen Leistungen, die
nicht erst von heute und nur für morgen sind, ungemindert vorhanden ist.

Die letzten Monate haben neue Ausgaben und neue Bücher zweier Erzähler
gebracht, die beide, vor vielen, verdienen, daß der Blick der Empfänglichen wieder
einmal auf sie zurückgelenkt wird. So grundverschieden, ja gegensätzlich Wilhelm
Raabe und Heinrich Hansjakob sind, gemeinsam ist ihnen die Freude an dein Reichtum
verborgnen, nur dem tiefer dringenden Blick erkennbaren Lebens, gemeinsam ein
frischer Hauch von Gesundheit, gemeinsam die Pietät für Zustände und Überliefe¬
rungen, mit denen der „Fortschritt" gern längst aufgeräumt hätte, gemeinsam auch>
die Lust, vergangne Zeiten und Schicksale mit der gleichen Wärme zu beleben wie
die frischeste Gegenwart, gemeinsam endlich ein freilich dem Grade nach sehr ver-
schiedner, doch der gleichen Wurzel entsprossener Maugel ihrer Darstellungskunst.
Der äußere Anlaß, eine vergleichende Charakteristik beider Erzähler zu geben, liegt in
der Vollendung der neuen Ausgabe von Wilhelm Rnabes „Gesammelten Erzählungen"^)
und in dem Erscheinen einer kleinern Reihe Hcmsjakobscher Schriften;^) der innere,
wichtigere in der beständigen Zunahme des unpoetisch Prätentiösen, Überreizten,
des unnatürlich Gemachtem in unsrer Litteratur, einer Zunahme, die in gewissen
Kreisen die mißmutige Vorstellung erzeugt, daß es gar nicht mehr der Mühe
lohne, sich überhaupt noch unter den Erzeugnissen der jüngsten Zeit umzusehen.
So schlimm steht es aber doch noch nicht, und zum Beweis sei heute an die
beiden Erzähler erinnert, auf sie zurückgewiesen, wenn mau so will, obschon beide
leben und hoffentlich noch manches Jahrzehnt leben werden. Von einer Litteratur,
in der man immer nur von den „Ereignissen" des letzten Halbjahrs sprechen dürfte,




Gesammelte Erzählungen. Von Wilhelm Raabe. Drei Bände. Berlin,
I8SK—I3V7, Otto Zanke.
-
) Wilde Kirschen. Von Heinrich HanSjakob. Heidelberg, G, Weiß, 18S3. —
Schneebällen. Erste bis dritte Folge. Heidelberg, G. Weist, 1SS4, IM. — Vauern-
blut. Heidelberg. G, Weist, 189V. — Der Leutnant von Haste. Heidelberg, G. Weist, 18S6.
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[0576] [Abbildung] Weihnachtsbücher 1. Wilhelm Raabe und Heinrich Hansjakob le Weihnachtszeit hat von Alters her bewirkt, daß sich die Menschen darauf besinnen, was sie schon besitzen. Indem die Wünsche nach Neuem schweifen, tritt einem unwillkürlich vor Augen, was man schon sein nennt und im Grunde hoher schätzen muß, als alles Nenhinzukommende. Das gilt so gut wie für Hausrat und Schmuck, auch für Bücher; wir wissen, daß auch hier das gute Alte immer neu bleibt, da das Bleibende und dauernd Wirksame alle bloßen Neuigkeiten hinter sich läßt. Gerade jetzt, wo neben wenigem Gute» und Tüchtigen so viel rasch Vergängliches und voll¬ kommen Richtiges auf deu Markt gebracht wird, ist es ein erquickliches Gefühl, sich zu vergegenwärtigen, daß daneben der ganze Schatz der poetischen Leistungen, die nicht erst von heute und nur für morgen sind, ungemindert vorhanden ist. Die letzten Monate haben neue Ausgaben und neue Bücher zweier Erzähler gebracht, die beide, vor vielen, verdienen, daß der Blick der Empfänglichen wieder einmal auf sie zurückgelenkt wird. So grundverschieden, ja gegensätzlich Wilhelm Raabe und Heinrich Hansjakob sind, gemeinsam ist ihnen die Freude an dein Reichtum verborgnen, nur dem tiefer dringenden Blick erkennbaren Lebens, gemeinsam ein frischer Hauch von Gesundheit, gemeinsam die Pietät für Zustände und Überliefe¬ rungen, mit denen der „Fortschritt" gern längst aufgeräumt hätte, gemeinsam auch> die Lust, vergangne Zeiten und Schicksale mit der gleichen Wärme zu beleben wie die frischeste Gegenwart, gemeinsam endlich ein freilich dem Grade nach sehr ver- schiedner, doch der gleichen Wurzel entsprossener Maugel ihrer Darstellungskunst. Der äußere Anlaß, eine vergleichende Charakteristik beider Erzähler zu geben, liegt in der Vollendung der neuen Ausgabe von Wilhelm Rnabes „Gesammelten Erzählungen"^) und in dem Erscheinen einer kleinern Reihe Hcmsjakobscher Schriften;^) der innere, wichtigere in der beständigen Zunahme des unpoetisch Prätentiösen, Überreizten, des unnatürlich Gemachtem in unsrer Litteratur, einer Zunahme, die in gewissen Kreisen die mißmutige Vorstellung erzeugt, daß es gar nicht mehr der Mühe lohne, sich überhaupt noch unter den Erzeugnissen der jüngsten Zeit umzusehen. So schlimm steht es aber doch noch nicht, und zum Beweis sei heute an die beiden Erzähler erinnert, auf sie zurückgewiesen, wenn mau so will, obschon beide leben und hoffentlich noch manches Jahrzehnt leben werden. Von einer Litteratur, in der man immer nur von den „Ereignissen" des letzten Halbjahrs sprechen dürfte, Gesammelte Erzählungen. Von Wilhelm Raabe. Drei Bände. Berlin, I8SK—I3V7, Otto Zanke. - ) Wilde Kirschen. Von Heinrich HanSjakob. Heidelberg, G, Weiß, 18S3. — Schneebällen. Erste bis dritte Folge. Heidelberg, G. Weist, 1SS4, IM. — Vauern- blut. Heidelberg. G, Weist, 189V. — Der Leutnant von Haste. Heidelberg, G. Weist, 18S6.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/576>, abgerufen am 04.01.2025.