Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Weihnachtsbiicher schwiege man besser ganz. Ein Ereignis ist uns der Neudruck von W. Raabes kleinern Man kann in der Gesamtentwicklung Wilhelm Raabes deutlich vier Perioden Grenzboten IV 1836 72
Weihnachtsbiicher schwiege man besser ganz. Ein Ereignis ist uns der Neudruck von W. Raabes kleinern Man kann in der Gesamtentwicklung Wilhelm Raabes deutlich vier Perioden Grenzboten IV 1836 72
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Weihnachtsbiicher
schwiege man besser ganz. Ein Ereignis ist uns der Neudruck von W. Raabes kleinern
Erzählungen ebeu auch, Ereignis, trotz Sudermanns „Morituri," Julius Wolffs
„Asscilida" und Fritz Mauthuers widriger „Bunter Reihe." Die drei Bände Novellen
sind zu verschiednen Zeiten entstanden und veröffentlicht worden, an ihrer Hand läßt
sich drei Jahrzehnte hindurch die Entwicklung Raabes verfolgen. Zur Charakteristik
dieses eigentümlichen, fruchtbaren, so durch und durch deutschen Erzählers macht
man es sich jetzt schou mit Gemeinplätzen bequem, während man der Aufgabe, den
Kern seiner Natur und die wunderlichen Widersprüche in seinem Schaffen zu er¬
hellen, noch um keinen Schritt näher gekommen ist. Wie eine geschlossene Welt
steigt das deutsche Leben und Wesen mit allem Zauber seiner Innerlichkeit und
seiner wackern Herzen aus diesen Erfindungen hervor. Auch wo Raabe den
Heimatboden verläßt und sich in fremder Welt bewegt, verleugnen sich des Dichters
ganz deutsche Phantasie und ganz deutsches Empfinden keinen Augenblick. Was
sich als Entwicklungsgesetz in Raabes größern Dichtungen offenbart: der Drang,
einer poetischen Grundstimmung gerecht zu werden, diese Grundstimmung in der
Fülle der lebendigen Erscheinungen, auch in den krausen und wirren Zügen der
Lebenswidersprüche zum Ausdruck zu bringen, das kehrt auch in der bunten Reihe
der kleinern Erzählungen wieder. Und wenn es bei Raabes größern Kompositionen
darauf ankommt, ob sich alle Elemente einer Erzählung der allezeit echt dichterischen
Grundstimmung leicht einfügen oder einzelne sich im Verlauf als zu spröde erweisen,
wenn sich darnach der mehr oder minder glückliche Gesamteindruck des größern
Werkes bestimmt (man vergleiche zu diesem Zwecke den „Hungerpastor" und
„Abu Telfan oder die Heimkehr vom Mondgebirge"!), so ist es bei den kleinern
Erzählungen des Dichters nicht viel anders.
Man kann in der Gesamtentwicklung Wilhelm Raabes deutlich vier Perioden
unterscheiden: eine erste, in der der Dichter noch mit der Fülle seiner Gesichte
und dem Glück und Leid des Lebeus gleichsam spielt („Die Chronik der Sperlings¬
gasse," „Die Kinder von Finkenrode," „Unsers Herrgotts Kanzlei" und verwandte
Dichtungen); eine zweite, in der er, pessimistisch gestimmt, die ungeheuern Wider¬
sprüche des Meuschheits- und des Menschendaseins erkannt hat und den sie durch¬
ziehenden dämonischen Mächten der Sünde, des Irrtums, des Todes, der Lüge
und der Selbstsucht die unbesiegbare Macht warmer Liebe, unbestechlicher Schätzung
der wahren Lebensgüter und kräftiger, vollbewußter Resignation entgegensetzt („Der
Hungerpastor," „Der Schüdderump," „Abu Telfan"); eine dritte, in der sich seine
Lebensanschauung und seiue Stoffe in ungewöhnlich glücklicher Weise decken, der
inzwischen sicher gewordne und dem Pessimismus entwachsene Humor seine goldensten
Lichter über die Gebilde des Dichters ergießt („Horacker," „Wuunigel," „Alte
Nester," „Der Dräumling," „Das Horn von Wanza"); eine vierte endlich, in der
ihn seine Neigung zum Abnormen, zu rätselvollen Gestalten und traumhaften
Schicksalen vou der freien Bahn klarer, überzeugungskräftiger Darstellung hart
ein die Grenze mcmieristischer Wildwege gedrängt hat. Alle Eigentümlichkeiten
dieser Perioden finden sich auch in der Sammlung seiner Erzählungen wieder,
wenigstens die der drei ersten; einige dieser Phantasiestücke lassen auch erkennen,
warum die letzte Entwicklung eingetreten ist. Es ist nur natürlich, daß der
Blick eines Dichters wie Raabe, der so tief in die Seelen, in das Innere der
Dinge dringt, auch mit besonderm Wohlgefallen auf den heitern und komischen
Außenseiten weilt. Einige der Novellen wie „Keltische Knochen" oder „Die Gänse
bon Bützow" schwingen sich zu glänzenden und fröhlichen Capriccios auf. Die
Brücke von diesen Geschichten zu den tieftragischcn „Der Junker von Denow," „W
Grenzboten IV 1836 72
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