Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Line englische Litteraturgeschichte mangelhafte Gesetze und schlechte, verrottete Einrichtungen zur Seite, die ihnen Ein großer Vorzug des Wülkerschen Buches ist, daß der Verfasser fast Das Buch ist gegenwärtig das beste Hilfsmittel, den reichen Schatz der Lrnst Groth Line englische Litteraturgeschichte mangelhafte Gesetze und schlechte, verrottete Einrichtungen zur Seite, die ihnen Ein großer Vorzug des Wülkerschen Buches ist, daß der Verfasser fast Das Buch ist gegenwärtig das beste Hilfsmittel, den reichen Schatz der Lrnst Groth <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0575" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224159"/> <fw type="header" place="top"> Line englische Litteraturgeschichte</fw><lb/> <p xml:id="ID_1711" prev="#ID_1710"> mangelhafte Gesetze und schlechte, verrottete Einrichtungen zur Seite, die ihnen<lb/> ein scheinbares Recht zu ihrer Lieblosigkeit geben. Darum kämpft der Dichter<lb/> von Anfang an in seinen Romanen gegen die Ungerechtigkeiten in der Gesetz¬<lb/> gebung. Gleich in den Pickwickiern wendet er sich gegen das Gefängniswesen<lb/> in England, das er durch die Schicksale seiner Jugend genau kennen gelernt<lb/> hatte; gegen das Armenwesen ist Oliver Toise, gegen den Unfug in dem<lb/> Privatschulwesen Nicholas Nichelby, gegen das englische Prozeßverfahren ist<lb/> Bleak-Haus geschrieben. Durch vernünftigere Staatseinrichtungen soll das<lb/> Volk gehoben, soll seine Sittlichkeit und damit auch seine ganze Lage gebessert<lb/> werden; denn die soziale Frage ist Dickens eine sittliche: ein edler Mensch<lb/> kann sich nach seiner Ansicht nie unglücklich fühlen. Der Sitz des Volks¬<lb/> wohles ruht in der Familie, vor allem in der Frau, die er daher so hoch<lb/> wie kaum ein andrer Schriftsteller schätzt."</p><lb/> <p xml:id="ID_1712"> Ein großer Vorzug des Wülkerschen Buches ist, daß der Verfasser fast<lb/> von allen bedeutenden Werken eine klare Inhaltsangabe giebt. Mit feinem<lb/> Verständnis weiß er die verborgnen Absichten und Ideen schwieriger Dichtungen<lb/> darzulegen, ohne überflüssiges ästhetisches Rankenwerk. Durch weise Ökonomie<lb/> ist er imstande gewesen, den ungeheuern Stoff in einem Bande von neunund¬<lb/> dreißig Bogen zu bewältigen. In der neuern und neuesten Zeit hat er sich<lb/> mit Recht auf die schöngeistige Litteratur beschränkt; hätte er dieses Gebiet<lb/> überschritten, so hätte sich schwer eine Grenze sür das gesamte litterarische<lb/> Leben finden lassen. Es hätte die Philosophie und die Geschichtschreibung, die<lb/> Biographien und die Reisebeschreibung behandelt werden müssen, und das wäre<lb/> in einem Bande unmöglich gewesen. Wülkers Litteraturgeschichte zeigt dann<lb/> endlich auch, daß einem auf wissenschaftlicher Grundlage stehenden Werke<lb/> Illustrationen nichts schaden, daß sie im Gegenteil zur Erleichterung des Ver¬<lb/> ständnisses beitragen und bisweilen schneller und sicherer in den Charakter<lb/> einer Zeit und eines Schriftstellers einführen als lange Auseinandersetzungen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1713"> Das Buch ist gegenwärtig das beste Hilfsmittel, den reichen Schatz der<lb/> englischen Litteratur kennen zu lernen. Man mag über die politische und wirt¬<lb/> schaftliche Stellung Englands zu uns denken, wie man will, die Thatsache<lb/> müssen wir anerkennen, daß die deutsche Litteratur dem englischen Geistesleben<lb/> unendlich viel verdankt. Ohne Shakespeare Hütten wir kein deutsches Drama,<lb/> und ohne Scott und Dickens keine Blüte des Romans. In der fremden Ein¬<lb/> flüssen weniger zugänglichen englischen Litteratur haben sich viele echte Grund¬<lb/> züge des germanischen Geistes erhalten, die in der deutschen Litteratur durch<lb/> die zahllosen Einflüsse fremder Dichtungen verwischt worden sind. Vielleicht<lb/> wird in unsrer zerfahrnen Litteratur einmal der Ruf ertönen: Zurück zu<lb/> Shakespeare und zu Dickens, den beiden Grundquellen einer wahrhaft großen<lb/> Volks litteratur!</p><lb/> <note type="byline"> Lrnst Groth</note><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0575]
Line englische Litteraturgeschichte
mangelhafte Gesetze und schlechte, verrottete Einrichtungen zur Seite, die ihnen
ein scheinbares Recht zu ihrer Lieblosigkeit geben. Darum kämpft der Dichter
von Anfang an in seinen Romanen gegen die Ungerechtigkeiten in der Gesetz¬
gebung. Gleich in den Pickwickiern wendet er sich gegen das Gefängniswesen
in England, das er durch die Schicksale seiner Jugend genau kennen gelernt
hatte; gegen das Armenwesen ist Oliver Toise, gegen den Unfug in dem
Privatschulwesen Nicholas Nichelby, gegen das englische Prozeßverfahren ist
Bleak-Haus geschrieben. Durch vernünftigere Staatseinrichtungen soll das
Volk gehoben, soll seine Sittlichkeit und damit auch seine ganze Lage gebessert
werden; denn die soziale Frage ist Dickens eine sittliche: ein edler Mensch
kann sich nach seiner Ansicht nie unglücklich fühlen. Der Sitz des Volks¬
wohles ruht in der Familie, vor allem in der Frau, die er daher so hoch
wie kaum ein andrer Schriftsteller schätzt."
Ein großer Vorzug des Wülkerschen Buches ist, daß der Verfasser fast
von allen bedeutenden Werken eine klare Inhaltsangabe giebt. Mit feinem
Verständnis weiß er die verborgnen Absichten und Ideen schwieriger Dichtungen
darzulegen, ohne überflüssiges ästhetisches Rankenwerk. Durch weise Ökonomie
ist er imstande gewesen, den ungeheuern Stoff in einem Bande von neunund¬
dreißig Bogen zu bewältigen. In der neuern und neuesten Zeit hat er sich
mit Recht auf die schöngeistige Litteratur beschränkt; hätte er dieses Gebiet
überschritten, so hätte sich schwer eine Grenze sür das gesamte litterarische
Leben finden lassen. Es hätte die Philosophie und die Geschichtschreibung, die
Biographien und die Reisebeschreibung behandelt werden müssen, und das wäre
in einem Bande unmöglich gewesen. Wülkers Litteraturgeschichte zeigt dann
endlich auch, daß einem auf wissenschaftlicher Grundlage stehenden Werke
Illustrationen nichts schaden, daß sie im Gegenteil zur Erleichterung des Ver¬
ständnisses beitragen und bisweilen schneller und sicherer in den Charakter
einer Zeit und eines Schriftstellers einführen als lange Auseinandersetzungen.
Das Buch ist gegenwärtig das beste Hilfsmittel, den reichen Schatz der
englischen Litteratur kennen zu lernen. Man mag über die politische und wirt¬
schaftliche Stellung Englands zu uns denken, wie man will, die Thatsache
müssen wir anerkennen, daß die deutsche Litteratur dem englischen Geistesleben
unendlich viel verdankt. Ohne Shakespeare Hütten wir kein deutsches Drama,
und ohne Scott und Dickens keine Blüte des Romans. In der fremden Ein¬
flüssen weniger zugänglichen englischen Litteratur haben sich viele echte Grund¬
züge des germanischen Geistes erhalten, die in der deutschen Litteratur durch
die zahllosen Einflüsse fremder Dichtungen verwischt worden sind. Vielleicht
wird in unsrer zerfahrnen Litteratur einmal der Ruf ertönen: Zurück zu
Shakespeare und zu Dickens, den beiden Grundquellen einer wahrhaft großen
Volks litteratur!
Lrnst Groth
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |