Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Line englische Litteraturgeschichte

sorbiren und verwandeln die Landbevölkerung, mobilisiren deren jungfräuliche
Energie und verzehren sie nach wenigen Generationen. Die Urbanisirung der
Landbevölkerung Englands beginnt mit einer Verschärfung der Intelligenz und
Arbeitslust und schließt in vielen Fällen ganz plötzlich mit dem Bankrott der
Lebenskraft" (S. 278).




Eine englische Litteraturgeschichte

er leider zu früh gestorbne Straßburger August Bernhard ten
Brink hat in einer Rektoratsrede über die Aufgabe der Litteratur¬
geschichte Grundsätze aufgestellt, die in den Kreisen der Literar¬
historiker zahlreiche Erörterungen hervorgerufen haben. Er wendet
sich gegen alle einseitigen wissenschaftlichen und uuwissenschnft-
licheu Methoden, wie sie von ihren Vertretern als die allein richtigen zur
Lösung litterarischer Fragen gepriesen werden: gegen die philologisch-antiqua¬
rische, die kulturgeschichtlich-analytische, die christlich-momlisirende und die
ästhetisch-dogmatische. Weder mit der einen noch mit der andern gelange man
zu einem vollen Verständnis und zu einer richtigen Schätzung litterarischer
Kunstwerke. Die Litteraturgeschichte müsse aus einer dreifachen Wurzel empor¬
wachsen, aus der Geschichte der poetischen Kunstform oder der poetischen Technik,
aus der Geschichte der dichterischen Stoffe oder der litterarischen Überlieferung
und aus der Geschichte der allgemein herrschenden Ideen und des individuellen
schöpferischen Geistes.

Diese Ansicht ist unzweifelhaft richtig. Der Geschichtschreiber, der die
Entwicklung der Litteratur, d. h. der durch die Sprache ausgedrückten künst¬
lerischen Ideen darstellen will, muß die drei Wurzeln alles litterarischen
Schaffens genau kennen: das Kunstmittel der Sprache, die Behandlung des
Stoffes oder die Komposition und die Gestaltungskraft der künstlerischen Phan¬
tasie oder die Konzeption. Kurz gesagt, der Literarhistoriker muß zugleich
Philologe, Ästhetiker und Psychologe sein.

Ter Brück hat diese Theorien in seiner Geschichte der englischen Litteratur
praktisch durchführen wollen, aber er hat das Werk nur bis zum Zeitalter der
Königin Elisabeth gebracht, sodaß es trotz Brandes Bemühungen wohl ein
Torso bleiben wird.

Um so erfreulicher ist es, daß soeben in dem Verlage des Bibliographischen
Instituts ein Werk erschienen ist, daß in vielen Beziehungen einen vortrefflichen
Ersatz bietet. Es ist das die Geschichte der englischen Litteratur von


Grenzboten IV 1896 71
Line englische Litteraturgeschichte

sorbiren und verwandeln die Landbevölkerung, mobilisiren deren jungfräuliche
Energie und verzehren sie nach wenigen Generationen. Die Urbanisirung der
Landbevölkerung Englands beginnt mit einer Verschärfung der Intelligenz und
Arbeitslust und schließt in vielen Fällen ganz plötzlich mit dem Bankrott der
Lebenskraft" (S. 278).




Eine englische Litteraturgeschichte

er leider zu früh gestorbne Straßburger August Bernhard ten
Brink hat in einer Rektoratsrede über die Aufgabe der Litteratur¬
geschichte Grundsätze aufgestellt, die in den Kreisen der Literar¬
historiker zahlreiche Erörterungen hervorgerufen haben. Er wendet
sich gegen alle einseitigen wissenschaftlichen und uuwissenschnft-
licheu Methoden, wie sie von ihren Vertretern als die allein richtigen zur
Lösung litterarischer Fragen gepriesen werden: gegen die philologisch-antiqua¬
rische, die kulturgeschichtlich-analytische, die christlich-momlisirende und die
ästhetisch-dogmatische. Weder mit der einen noch mit der andern gelange man
zu einem vollen Verständnis und zu einer richtigen Schätzung litterarischer
Kunstwerke. Die Litteraturgeschichte müsse aus einer dreifachen Wurzel empor¬
wachsen, aus der Geschichte der poetischen Kunstform oder der poetischen Technik,
aus der Geschichte der dichterischen Stoffe oder der litterarischen Überlieferung
und aus der Geschichte der allgemein herrschenden Ideen und des individuellen
schöpferischen Geistes.

Diese Ansicht ist unzweifelhaft richtig. Der Geschichtschreiber, der die
Entwicklung der Litteratur, d. h. der durch die Sprache ausgedrückten künst¬
lerischen Ideen darstellen will, muß die drei Wurzeln alles litterarischen
Schaffens genau kennen: das Kunstmittel der Sprache, die Behandlung des
Stoffes oder die Komposition und die Gestaltungskraft der künstlerischen Phan¬
tasie oder die Konzeption. Kurz gesagt, der Literarhistoriker muß zugleich
Philologe, Ästhetiker und Psychologe sein.

Ter Brück hat diese Theorien in seiner Geschichte der englischen Litteratur
praktisch durchführen wollen, aber er hat das Werk nur bis zum Zeitalter der
Königin Elisabeth gebracht, sodaß es trotz Brandes Bemühungen wohl ein
Torso bleiben wird.

Um so erfreulicher ist es, daß soeben in dem Verlage des Bibliographischen
Instituts ein Werk erschienen ist, daß in vielen Beziehungen einen vortrefflichen
Ersatz bietet. Es ist das die Geschichte der englischen Litteratur von


Grenzboten IV 1896 71
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0569" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224153"/>
          <fw type="header" place="top"> Line englische Litteraturgeschichte</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1690" prev="#ID_1689"> sorbiren und verwandeln die Landbevölkerung, mobilisiren deren jungfräuliche<lb/>
Energie und verzehren sie nach wenigen Generationen. Die Urbanisirung der<lb/>
Landbevölkerung Englands beginnt mit einer Verschärfung der Intelligenz und<lb/>
Arbeitslust und schließt in vielen Fällen ganz plötzlich mit dem Bankrott der<lb/>
Lebenskraft" (S. 278).</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Eine englische Litteraturgeschichte</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1691"> er leider zu früh gestorbne Straßburger August Bernhard ten<lb/>
Brink hat in einer Rektoratsrede über die Aufgabe der Litteratur¬<lb/>
geschichte Grundsätze aufgestellt, die in den Kreisen der Literar¬<lb/>
historiker zahlreiche Erörterungen hervorgerufen haben. Er wendet<lb/>
sich gegen alle einseitigen wissenschaftlichen und uuwissenschnft-<lb/>
licheu Methoden, wie sie von ihren Vertretern als die allein richtigen zur<lb/>
Lösung litterarischer Fragen gepriesen werden: gegen die philologisch-antiqua¬<lb/>
rische, die kulturgeschichtlich-analytische, die christlich-momlisirende und die<lb/>
ästhetisch-dogmatische. Weder mit der einen noch mit der andern gelange man<lb/>
zu einem vollen Verständnis und zu einer richtigen Schätzung litterarischer<lb/>
Kunstwerke. Die Litteraturgeschichte müsse aus einer dreifachen Wurzel empor¬<lb/>
wachsen, aus der Geschichte der poetischen Kunstform oder der poetischen Technik,<lb/>
aus der Geschichte der dichterischen Stoffe oder der litterarischen Überlieferung<lb/>
und aus der Geschichte der allgemein herrschenden Ideen und des individuellen<lb/>
schöpferischen Geistes.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1692"> Diese Ansicht ist unzweifelhaft richtig. Der Geschichtschreiber, der die<lb/>
Entwicklung der Litteratur, d. h. der durch die Sprache ausgedrückten künst¬<lb/>
lerischen Ideen darstellen will, muß die drei Wurzeln alles litterarischen<lb/>
Schaffens genau kennen: das Kunstmittel der Sprache, die Behandlung des<lb/>
Stoffes oder die Komposition und die Gestaltungskraft der künstlerischen Phan¬<lb/>
tasie oder die Konzeption. Kurz gesagt, der Literarhistoriker muß zugleich<lb/>
Philologe, Ästhetiker und Psychologe sein.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1693"> Ter Brück hat diese Theorien in seiner Geschichte der englischen Litteratur<lb/>
praktisch durchführen wollen, aber er hat das Werk nur bis zum Zeitalter der<lb/>
Königin Elisabeth gebracht, sodaß es trotz Brandes Bemühungen wohl ein<lb/>
Torso bleiben wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1694" next="#ID_1695"> Um so erfreulicher ist es, daß soeben in dem Verlage des Bibliographischen<lb/>
Instituts ein Werk erschienen ist, daß in vielen Beziehungen einen vortrefflichen<lb/>
Ersatz bietet.  Es ist das die Geschichte der englischen Litteratur von</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV 1896 71</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0569] Line englische Litteraturgeschichte sorbiren und verwandeln die Landbevölkerung, mobilisiren deren jungfräuliche Energie und verzehren sie nach wenigen Generationen. Die Urbanisirung der Landbevölkerung Englands beginnt mit einer Verschärfung der Intelligenz und Arbeitslust und schließt in vielen Fällen ganz plötzlich mit dem Bankrott der Lebenskraft" (S. 278). Eine englische Litteraturgeschichte er leider zu früh gestorbne Straßburger August Bernhard ten Brink hat in einer Rektoratsrede über die Aufgabe der Litteratur¬ geschichte Grundsätze aufgestellt, die in den Kreisen der Literar¬ historiker zahlreiche Erörterungen hervorgerufen haben. Er wendet sich gegen alle einseitigen wissenschaftlichen und uuwissenschnft- licheu Methoden, wie sie von ihren Vertretern als die allein richtigen zur Lösung litterarischer Fragen gepriesen werden: gegen die philologisch-antiqua¬ rische, die kulturgeschichtlich-analytische, die christlich-momlisirende und die ästhetisch-dogmatische. Weder mit der einen noch mit der andern gelange man zu einem vollen Verständnis und zu einer richtigen Schätzung litterarischer Kunstwerke. Die Litteraturgeschichte müsse aus einer dreifachen Wurzel empor¬ wachsen, aus der Geschichte der poetischen Kunstform oder der poetischen Technik, aus der Geschichte der dichterischen Stoffe oder der litterarischen Überlieferung und aus der Geschichte der allgemein herrschenden Ideen und des individuellen schöpferischen Geistes. Diese Ansicht ist unzweifelhaft richtig. Der Geschichtschreiber, der die Entwicklung der Litteratur, d. h. der durch die Sprache ausgedrückten künst¬ lerischen Ideen darstellen will, muß die drei Wurzeln alles litterarischen Schaffens genau kennen: das Kunstmittel der Sprache, die Behandlung des Stoffes oder die Komposition und die Gestaltungskraft der künstlerischen Phan¬ tasie oder die Konzeption. Kurz gesagt, der Literarhistoriker muß zugleich Philologe, Ästhetiker und Psychologe sein. Ter Brück hat diese Theorien in seiner Geschichte der englischen Litteratur praktisch durchführen wollen, aber er hat das Werk nur bis zum Zeitalter der Königin Elisabeth gebracht, sodaß es trotz Brandes Bemühungen wohl ein Torso bleiben wird. Um so erfreulicher ist es, daß soeben in dem Verlage des Bibliographischen Instituts ein Werk erschienen ist, daß in vielen Beziehungen einen vortrefflichen Ersatz bietet. Es ist das die Geschichte der englischen Litteratur von Grenzboten IV 1896 71

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/569
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/569>, abgerufen am 05.01.2025.