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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland

von Schewalje Gwarde und Rotnüster (Rittmeister). Ans dem Perrückenmacher
ist ein Parikmcicher geworden. In solchen Dingen kommt die ganze Naivität
eines jugendlichen Volks zum Ausdruck, das sich gar nicht träumen läßt, daß
man in solchen Äußerlichkeiten auf Eigentümlichkeiten fremder Völker Rücksicht
nehmen könnte. Dahin gehört auch, daß der Fremde, der zufällig einen Vor¬
namen führt, der nicht im Heiligenkalcnder steht, gezwungen wird, einen halb¬
wegs ähnlichen aus der Reihe der Heiligen anzunehmen. Wer Friedrich hieß,
heißt nun Fedor, Wilhelm wird zu Wassilij, Heinrich zu Andres, Bernhard
zu Boris (sprich Barth). Da man sich in der Gesellschaft nicht mit den
Familiennamen anredet, sondern mit dem Vornamen unter Zufügung des
Vornamens des Vaters, so wird aus einem Robert, dessen Vater Eduard
hieß, ein Roman Ewgrafowitsch, und ans einer Luise, deren Vater Georg
hieß, eine Jelisaweta Jegorowna. Dieser Umlaufe, so willkürlich sie ist, kann
man sich schlechterdings nicht entziehen.

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Ist aber das russische Volk wirklich ein junges Volk? Die korrumpirte
Gesellschaft, die heute in Rußland die Zügel in den Händen hat, sie hat nichts
von jugendlicher Kraft. Aber die Kraft steckt in dem niedern Volke, das,
äußerlich frei geworden durch die Aufhebung der Leibeigenschaft, noch zurück¬
gedrängt, noch roh, noch träge, sich doch Schritt für Schritt die Herrschaft
erobern wird. Schon jetzt merkt man ans vielen Gebieten, daß durch die
Adern der alten Gesellschaft frisches Blut zu fließen beginnt.

Welch gesunde Kraft im russischen Volke steckt, das lehrt auch die russische
Kunst. In Deutschland haben wir, abgesehen von den Sonderausstelluugen
Wereschtschcigins, wenig Proben dieser Kunst zu sehen bekommen. Auf der
großen Berliner internationalen Ausstellung von 1891 waren die Russen sehr
schlecht vertreten, so viel ich mich besinne, meist durch ältere Bilder aus dem
Privatbesitz des Kaisers; die Künstler selbst hatten kaum etwas eingesandt.
Wereschtschagin aber steht mehr als andre russische Maler unter französischem
Einfluß; an ihm kann man gerade am wenigsten sehen, was so charakteristisch
für die moderne Kunst in Nußland ist: daß sie wohl von Franzosen und Deutschen
gelernt hat, daß sie aber ganz ihre eignen Wege geht, daß sie eine nationale
Kunst ist. Die Berliner Kunstausstellung von 1896 gab zum erstenmal ein
einigermaßen zutreffendes Bild von dem, was die Russen können, freilich nur
in wenigen Bildern.

In Nußland selbst kann man die moderne russische Kunst am besten und
vollständigsten kennen lernen in der "Galerie Tretjakow" in Moskau. Zwei
Brüder Tretjakow, Millionäre und Großkansleute, von denen der eine noch
lebt, haben ihre für Privatleute erstaunlich große Gemäldesammlung der Stadt
Moskau geschenkt. Bis ans einen kleinen Saal, in dem sich u. ni. zwei Menzel


Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland

von Schewalje Gwarde und Rotnüster (Rittmeister). Ans dem Perrückenmacher
ist ein Parikmcicher geworden. In solchen Dingen kommt die ganze Naivität
eines jugendlichen Volks zum Ausdruck, das sich gar nicht träumen läßt, daß
man in solchen Äußerlichkeiten auf Eigentümlichkeiten fremder Völker Rücksicht
nehmen könnte. Dahin gehört auch, daß der Fremde, der zufällig einen Vor¬
namen führt, der nicht im Heiligenkalcnder steht, gezwungen wird, einen halb¬
wegs ähnlichen aus der Reihe der Heiligen anzunehmen. Wer Friedrich hieß,
heißt nun Fedor, Wilhelm wird zu Wassilij, Heinrich zu Andres, Bernhard
zu Boris (sprich Barth). Da man sich in der Gesellschaft nicht mit den
Familiennamen anredet, sondern mit dem Vornamen unter Zufügung des
Vornamens des Vaters, so wird aus einem Robert, dessen Vater Eduard
hieß, ein Roman Ewgrafowitsch, und ans einer Luise, deren Vater Georg
hieß, eine Jelisaweta Jegorowna. Dieser Umlaufe, so willkürlich sie ist, kann
man sich schlechterdings nicht entziehen.

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Ist aber das russische Volk wirklich ein junges Volk? Die korrumpirte
Gesellschaft, die heute in Rußland die Zügel in den Händen hat, sie hat nichts
von jugendlicher Kraft. Aber die Kraft steckt in dem niedern Volke, das,
äußerlich frei geworden durch die Aufhebung der Leibeigenschaft, noch zurück¬
gedrängt, noch roh, noch träge, sich doch Schritt für Schritt die Herrschaft
erobern wird. Schon jetzt merkt man ans vielen Gebieten, daß durch die
Adern der alten Gesellschaft frisches Blut zu fließen beginnt.

Welch gesunde Kraft im russischen Volke steckt, das lehrt auch die russische
Kunst. In Deutschland haben wir, abgesehen von den Sonderausstelluugen
Wereschtschcigins, wenig Proben dieser Kunst zu sehen bekommen. Auf der
großen Berliner internationalen Ausstellung von 1891 waren die Russen sehr
schlecht vertreten, so viel ich mich besinne, meist durch ältere Bilder aus dem
Privatbesitz des Kaisers; die Künstler selbst hatten kaum etwas eingesandt.
Wereschtschagin aber steht mehr als andre russische Maler unter französischem
Einfluß; an ihm kann man gerade am wenigsten sehen, was so charakteristisch
für die moderne Kunst in Nußland ist: daß sie wohl von Franzosen und Deutschen
gelernt hat, daß sie aber ganz ihre eignen Wege geht, daß sie eine nationale
Kunst ist. Die Berliner Kunstausstellung von 1896 gab zum erstenmal ein
einigermaßen zutreffendes Bild von dem, was die Russen können, freilich nur
in wenigen Bildern.

In Nußland selbst kann man die moderne russische Kunst am besten und
vollständigsten kennen lernen in der „Galerie Tretjakow" in Moskau. Zwei
Brüder Tretjakow, Millionäre und Großkansleute, von denen der eine noch
lebt, haben ihre für Privatleute erstaunlich große Gemäldesammlung der Stadt
Moskau geschenkt. Bis ans einen kleinen Saal, in dem sich u. ni. zwei Menzel


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[0232] Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland von Schewalje Gwarde und Rotnüster (Rittmeister). Ans dem Perrückenmacher ist ein Parikmcicher geworden. In solchen Dingen kommt die ganze Naivität eines jugendlichen Volks zum Ausdruck, das sich gar nicht träumen läßt, daß man in solchen Äußerlichkeiten auf Eigentümlichkeiten fremder Völker Rücksicht nehmen könnte. Dahin gehört auch, daß der Fremde, der zufällig einen Vor¬ namen führt, der nicht im Heiligenkalcnder steht, gezwungen wird, einen halb¬ wegs ähnlichen aus der Reihe der Heiligen anzunehmen. Wer Friedrich hieß, heißt nun Fedor, Wilhelm wird zu Wassilij, Heinrich zu Andres, Bernhard zu Boris (sprich Barth). Da man sich in der Gesellschaft nicht mit den Familiennamen anredet, sondern mit dem Vornamen unter Zufügung des Vornamens des Vaters, so wird aus einem Robert, dessen Vater Eduard hieß, ein Roman Ewgrafowitsch, und ans einer Luise, deren Vater Georg hieß, eine Jelisaweta Jegorowna. Dieser Umlaufe, so willkürlich sie ist, kann man sich schlechterdings nicht entziehen. 9 Ist aber das russische Volk wirklich ein junges Volk? Die korrumpirte Gesellschaft, die heute in Rußland die Zügel in den Händen hat, sie hat nichts von jugendlicher Kraft. Aber die Kraft steckt in dem niedern Volke, das, äußerlich frei geworden durch die Aufhebung der Leibeigenschaft, noch zurück¬ gedrängt, noch roh, noch träge, sich doch Schritt für Schritt die Herrschaft erobern wird. Schon jetzt merkt man ans vielen Gebieten, daß durch die Adern der alten Gesellschaft frisches Blut zu fließen beginnt. Welch gesunde Kraft im russischen Volke steckt, das lehrt auch die russische Kunst. In Deutschland haben wir, abgesehen von den Sonderausstelluugen Wereschtschcigins, wenig Proben dieser Kunst zu sehen bekommen. Auf der großen Berliner internationalen Ausstellung von 1891 waren die Russen sehr schlecht vertreten, so viel ich mich besinne, meist durch ältere Bilder aus dem Privatbesitz des Kaisers; die Künstler selbst hatten kaum etwas eingesandt. Wereschtschagin aber steht mehr als andre russische Maler unter französischem Einfluß; an ihm kann man gerade am wenigsten sehen, was so charakteristisch für die moderne Kunst in Nußland ist: daß sie wohl von Franzosen und Deutschen gelernt hat, daß sie aber ganz ihre eignen Wege geht, daß sie eine nationale Kunst ist. Die Berliner Kunstausstellung von 1896 gab zum erstenmal ein einigermaßen zutreffendes Bild von dem, was die Russen können, freilich nur in wenigen Bildern. In Nußland selbst kann man die moderne russische Kunst am besten und vollständigsten kennen lernen in der „Galerie Tretjakow" in Moskau. Zwei Brüder Tretjakow, Millionäre und Großkansleute, von denen der eine noch lebt, haben ihre für Privatleute erstaunlich große Gemäldesammlung der Stadt Moskau geschenkt. Bis ans einen kleinen Saal, in dem sich u. ni. zwei Menzel

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/232>, abgerufen am 05.01.2025.