Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland finden, enthält die Sammlung nur russische Gemälde und Statuen aus den Einer jungen kräftigen Kunst verzeiht man auch Auswüchse, und zu In dieser Sammlung lernt mau auch den Maler gründlich kennen, auf Wie die emporsteigende Kraft des russischen Volkes in der nächsten Zeit Grenzboten IV 1896 29
Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland finden, enthält die Sammlung nur russische Gemälde und Statuen aus den Einer jungen kräftigen Kunst verzeiht man auch Auswüchse, und zu In dieser Sammlung lernt mau auch den Maler gründlich kennen, auf Wie die emporsteigende Kraft des russischen Volkes in der nächsten Zeit Grenzboten IV 1896 29
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Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland
finden, enthält die Sammlung nur russische Gemälde und Statuen aus den
letzten Jahrzehnten. Da kann man Respekt vor der russischen Kunst be¬
kommen! Am hervorragendsten sind die Landschaften, vor allem die von Schischkin.
Dann folgen die Historienbilder, und sie sind, im Vergleich zu unsrer übrigen
modernen Kunst, sehr zahlreich. Hier zeigt sich ein jugendlich kräftiger
Realismus, der die Errungenschaften der westeuropäischen Künstler in der Be¬
handlung von Licht und Schatten geschickt verwendet. Während aber unsre
Pleinairisten usw. eigentlich immer bei der Studie stehen geblieben sind, den Fort¬
schritt in der Technik meist als Selbstzweck vorführen, haben die russischen Gemälde
einen wirklichen Inhalt. Ich habe auch auf den periodischen Ausstellungen
in Nußland fast nie solche Skizzen und Studien gesehen, wie sie unsre Kunst¬
ausstellungen füllen und oft eine höchst naive Selbstüberschätzung oder eine
Verkennung der wirklichen Aufgaben der Kunst verraten.
Einer jungen kräftigen Kunst verzeiht man auch Auswüchse, und zu
solchen Auswüchsen gehört bei der russischen die Sucht, das Grausige wieder¬
zugeben. Das Stärkste, was man in dieser Art in der Tretjakowscheu Galerie
sehen kann, ist ein Bild von Rjapin, das den Augenblick darstellt, wie Iwan
der Schreckliche seinen Sohn ermordet hat und nun in furchtbarer Neue den
verbindenden Körper in den Armen hält. Aber das Bild ist meisterhaft gemalt:
die brechenden Augen des Sohnes, die ängstlich starrenden Augen des Vaters
lassen einen nicht wieder los.
In dieser Sammlung lernt mau auch den Maler gründlich kennen, auf
den die Russen besonders stolz sind, den Seemaler Aiwasowskij. Ich zähle
ihn ohne Bedenken zu den größten Landschaftsmalern überhaupt; etwas
ähnliches von Luft und Wasser hatte ich nie gesehen. Hier bei Tretjakow
hat man auch den „ganzen" Wereschtschagin, neben seinen orientalischen und
Kricgsbildern auch seine Studien; man staunt über seine Vielseitigkeit und seinen
Packenden Vortrag. Freilich ist anch viel Spiel mit nicht immer künstlerischen
Effekten und viel Mache dabei. Auch die russische Bildhauerkunst hat meine
Erwartungen weit übertroffen. Alles in allem zeugt die russische Kunst von
frischer Kraft und gesunder Empfindung. Mit ihren Vorzügen wie mit ihren
Fehlern würde sie niemals in einem sinkenden Volk habe entstehen können.
Wie die emporsteigende Kraft des russischen Volkes in der nächsten Zeit
verwendet werden wird, davon hängt Rußlands Schicksal und das Schicksal
Enropas ab. Je mehr sich die Bildung verbreitet, je mehr begabte Köpfe
sich aus den untern Volksschichten in die höher» Kreise hinausarbeiten, je größer
die Zahl derer wird, die zur „herrschende»" Gesellschaft gehören, um so mehr
muß die Regierung darauf bedacht sein, eine Ablenkung für die überschäumende
Kraft und für die überschüssige Leidenschaft zu finden. Solche Ablenkungen waren
bisher der Pauslawismus, der allerdings zu dem letzten russisch-türkischen Kriege
Veranlassung gegeben hat, innerhalb der russischen Gesellschaft aber kein großes
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