Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches vielfach mit andern Parteien Hand in Hand zu gehen. Mit dem Fall des Ein modernes Sittenbild. Vor wenigen Wochen feierte das Theater des Maßgebliches und Unmaßgebliches vielfach mit andern Parteien Hand in Hand zu gehen. Mit dem Fall des Ein modernes Sittenbild. Vor wenigen Wochen feierte das Theater des <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0205" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223789"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_607" prev="#ID_606"> vielfach mit andern Parteien Hand in Hand zu gehen. Mit dem Fall des<lb/> Sozialistengesetzes, so begann am 15. der Genosse Wurm seine Berichterstattung<lb/> über die Arbeiterschntzresvlutionen, „trat eine Wandlung in der Behandlung des<lb/> Arbeiterschutzes ein. Während wir auf den Parteitagen 1890 und 1891 noch<lb/> das minder große Vergnügen hatten, uns mit denen herumzustreiten, die die<lb/> Anbahnung von Reformen für einen Unsinn erklärten, ist dieser Standpunkt heute<lb/> schon längst überwunden." Daß er die Sache im folgenden so darstellt, als<lb/> würden Reformen nur als Mittel zur Verwirklichung des Endziels erstrebt, nicht<lb/> als augenblickliche Wohlthat für die jetzt darnach verlangenden Arbeiter, das gehört<lb/> zu den taktischen Kuuststllckchen, deren nun einmal eine in der Umwandlung be¬<lb/> griffne Partei nicht entbehren kann. Aber mau sieht, daß es mit dieser Umwandlung<lb/> der Revolutionäre in eine bürgerliche Partei der kleinen Leute bedeutend rascher<lb/> geht als mit dem großen Kladderadatsch, der nach Marx und Engels schon vor<lb/> fünfzig Jahren unmittelbar bevorstand. Recht bürgerlich unten auch die Prcßzustäude<lb/> der Partei an. Wir erfahren zu unserm Vergnügen, daß es dem Vorwärts<lb/> gerade so geht wie allen andern Zeitungen und Zeitschriften (mit Ausnahme solcher,<lb/> die einen sehr dummen Leserkreis haben), d. h. daß alle seiue Leser auf ihn<lb/> schimpfen, und daß jeder etwas andres von ihm fordert, und vollends der Streit<lb/> um die „Neue Welt" brachte den Beweis, daß die sozialdemokratische Welt vor¬<lb/> läufig uoch ganz und gar die alte Welt ist. Die Reden Frohmes gegen die<lb/> Cynismen des sozialdemokratischen Unterhaltungsblattes hätte ein bairischer Pfarrer<lb/> in der zweiten Kammer halten können, und die Rede Steigers für die „Moderne"<lb/> hätte im Berliner Tageblatt oder in der Bohnischen oder in der Nationnlzeitung<lb/> stehen können. Ist man sich so darüber klar geworden, daß die Partei nicht aus¬<lb/> einanderfällt, wenn sie den verschiednen Geschmacksrichtungen und Mornlgrnndsätzen<lb/> der bürgerlichen Welt freien Spielraum läßt, so wird sie sich mit der Zeit auch<lb/> dazu bequeme», den Glauben an unsern Herrgott in ihrem Schoße zu dulden. In<lb/> dieser Debatte hatte übrigens Liebknecht den wirklich guten Einfall, den Vater<lb/> Homer den größten aller Realisten zu nennen und ihn unsern heutigen Realisten<lb/> als Vorbild zu empfehle«. Dagegen befindet sich Bebel im Irrtum, wenn er meint,<lb/> die „Bonrgeoissöhne" bekämen auf dem Gymnasium Aristophanes und Lucian zu<lb/> lesen. Was aber den Ovid und Horaz betrifft, so ist deren Erotik deswegen<lb/> ungefährlich, weil die Herren Lehrer dafür sorgen, daß die Schüler einen gründ¬<lb/> lichen Widerwillen gegen die alten Klassiker fassen und von dem anziehenden, was<lb/> darin stecken mag, gnr nichts gewahr werden. Wenigstens war das vor vierzig bis<lb/> fünfzig Jahren so; heute magh ja anders sein. So dürfen wir also wohl den<lb/> „Genossen" zurufein viel Glück zur Rückfahrt aus der neuen Welt in die alte!</p><lb/> </div> <div n="2"> <head> Ein modernes Sittenbild. </head> <p xml:id="ID_608" next="#ID_609"> Vor wenigen Wochen feierte das Theater des<lb/> Westens in Berlin seiue Auferstehung. Ein Prachtbau, wie mau seinesgleichen<lb/> in Deutschland auf dem Gebiete der Theaternrchitektur uicht findet, erhebt sich im<lb/> vornehmsten Viertel Berlins vor unsern Augen, mit schweren Mühen und schier<lb/> riesenhaften Kosten ist die Reichshauptstadt um einen großartigen und in seiner<lb/> Art wenigstens äußerlich wahrhaften Tempel der Kunst bereichert worden. Wie<lb/> aber dieser Bau geworden ist, von seinen Uranfängen bis zu seiner heutigen Vollendung,<lb/> das schildert uns der frühere Direktor und bekannte Leiter des verkrachten Theaters<lb/> „Alt-Berlin" Paul Blumenreich in einer unmittelbar vor Eröffnung des neuen Spiel-<lb/> Hanfes erschienenen „Festschrift," und er entrollt dabei ein Sittengemälde so krasser<lb/> Nntnr, daß man sich schaudernd an die Stirne greift und fragt: Wie ist das in einem</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0205]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
vielfach mit andern Parteien Hand in Hand zu gehen. Mit dem Fall des
Sozialistengesetzes, so begann am 15. der Genosse Wurm seine Berichterstattung
über die Arbeiterschntzresvlutionen, „trat eine Wandlung in der Behandlung des
Arbeiterschutzes ein. Während wir auf den Parteitagen 1890 und 1891 noch
das minder große Vergnügen hatten, uns mit denen herumzustreiten, die die
Anbahnung von Reformen für einen Unsinn erklärten, ist dieser Standpunkt heute
schon längst überwunden." Daß er die Sache im folgenden so darstellt, als
würden Reformen nur als Mittel zur Verwirklichung des Endziels erstrebt, nicht
als augenblickliche Wohlthat für die jetzt darnach verlangenden Arbeiter, das gehört
zu den taktischen Kuuststllckchen, deren nun einmal eine in der Umwandlung be¬
griffne Partei nicht entbehren kann. Aber mau sieht, daß es mit dieser Umwandlung
der Revolutionäre in eine bürgerliche Partei der kleinen Leute bedeutend rascher
geht als mit dem großen Kladderadatsch, der nach Marx und Engels schon vor
fünfzig Jahren unmittelbar bevorstand. Recht bürgerlich unten auch die Prcßzustäude
der Partei an. Wir erfahren zu unserm Vergnügen, daß es dem Vorwärts
gerade so geht wie allen andern Zeitungen und Zeitschriften (mit Ausnahme solcher,
die einen sehr dummen Leserkreis haben), d. h. daß alle seiue Leser auf ihn
schimpfen, und daß jeder etwas andres von ihm fordert, und vollends der Streit
um die „Neue Welt" brachte den Beweis, daß die sozialdemokratische Welt vor¬
läufig uoch ganz und gar die alte Welt ist. Die Reden Frohmes gegen die
Cynismen des sozialdemokratischen Unterhaltungsblattes hätte ein bairischer Pfarrer
in der zweiten Kammer halten können, und die Rede Steigers für die „Moderne"
hätte im Berliner Tageblatt oder in der Bohnischen oder in der Nationnlzeitung
stehen können. Ist man sich so darüber klar geworden, daß die Partei nicht aus¬
einanderfällt, wenn sie den verschiednen Geschmacksrichtungen und Mornlgrnndsätzen
der bürgerlichen Welt freien Spielraum läßt, so wird sie sich mit der Zeit auch
dazu bequeme», den Glauben an unsern Herrgott in ihrem Schoße zu dulden. In
dieser Debatte hatte übrigens Liebknecht den wirklich guten Einfall, den Vater
Homer den größten aller Realisten zu nennen und ihn unsern heutigen Realisten
als Vorbild zu empfehle«. Dagegen befindet sich Bebel im Irrtum, wenn er meint,
die „Bonrgeoissöhne" bekämen auf dem Gymnasium Aristophanes und Lucian zu
lesen. Was aber den Ovid und Horaz betrifft, so ist deren Erotik deswegen
ungefährlich, weil die Herren Lehrer dafür sorgen, daß die Schüler einen gründ¬
lichen Widerwillen gegen die alten Klassiker fassen und von dem anziehenden, was
darin stecken mag, gnr nichts gewahr werden. Wenigstens war das vor vierzig bis
fünfzig Jahren so; heute magh ja anders sein. So dürfen wir also wohl den
„Genossen" zurufein viel Glück zur Rückfahrt aus der neuen Welt in die alte!
Ein modernes Sittenbild. Vor wenigen Wochen feierte das Theater des
Westens in Berlin seiue Auferstehung. Ein Prachtbau, wie mau seinesgleichen
in Deutschland auf dem Gebiete der Theaternrchitektur uicht findet, erhebt sich im
vornehmsten Viertel Berlins vor unsern Augen, mit schweren Mühen und schier
riesenhaften Kosten ist die Reichshauptstadt um einen großartigen und in seiner
Art wenigstens äußerlich wahrhaften Tempel der Kunst bereichert worden. Wie
aber dieser Bau geworden ist, von seinen Uranfängen bis zu seiner heutigen Vollendung,
das schildert uns der frühere Direktor und bekannte Leiter des verkrachten Theaters
„Alt-Berlin" Paul Blumenreich in einer unmittelbar vor Eröffnung des neuen Spiel-
Hanfes erschienenen „Festschrift," und er entrollt dabei ein Sittengemälde so krasser
Nntnr, daß man sich schaudernd an die Stirne greift und fragt: Wie ist das in einem
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