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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Die Kompetenzerrveiterung der Amtsgerichte
und die Rechtsanwaltschaft

bekanntlich strebt unsre Neichsjustizverwaltung eine Erweiterung
der Zuständigkeit der Amtsgerichte an. So große Zustimmung
sich dieser Plan beim Publikum auch erworben hat, bei der
Nechtsanwaltschaft ist er auf entschiednen Widerspruch gestoßen.
Die dreizehn preußischen Anwaltskcimmern haben sich sämtlich
dagegen erklärt, und der jüngst in Berlin versammelt gewesene deutsche An¬
waltstag hat die Resolution gefaßt: "Die Erweiterung der amtsgerichtlichen
Kompetenz in Zivilprozeßsachen liegt weder im Interesse der Rechtspflege noch
des rechtsuchenden Publikums."

So schlimm ist es nun nicht. Wahr ist nur, daß diese Kompetenz¬
erweiterung für die Nechtsanwaltschaft in ihrer heutigen Ausbildung geradezu
unannehmbar erscheint.

Zunächst ist der Geldwert in ständigen Sinken begriffen; daher besteht
zwischen Streitsachen im Wert von 500 Mark und von 300 Mark kein großer
Unterschied mehr. Die einen sind ebenso Bagatellsachen, wie die andern.
Das Publikum kommt, wenn die Sachen bis zu 500 Mark den Amtsgerichten
überwiesen werden, viel rascher und billiger zu seinem Recht. Die Parteien
werden dann nicht mehr genötigt sein, zeitraubende und kostspielige Reisen
nach dem Landgerichtssitz zu unternehmen, um dort für solche kleine Sachen einen
Anwalt zu befragen, souderu sie können, wenn sie sich nicht selbst vertreten
wollen, einen Anwalt bequemer an Ort und Stelle haben. Die Ausdehnung
der Zuständigkeit der Amtsgerichte bis zu 500 Mark wird nach einer an¬
nähernden Schätzung die Landgerichte um 30 bis 40 Prozent aller Sachen
entlasten und dazu führen, daß das Platte Land den so wünschenswerten Zuzug
von Nechtsanwälten erhält. Die wachsende Bedeutung des Einzelrichteramts
liegt übrigens in unsrer Zeitrichtung begründet. Deshalb haben auch die
neuesten Zivilprozcßeutwürfe in Osterreich und in Frankreich die Zustündig-
keitsgrenze für die Einzelgerichte weit hinausgeschoben. In Österreich setzte
der Entwurf 1000 Gulden als Grenze fest. Das Abgeordnetenhaus setzte sie
mit knapper Mehrheit auf 500 Gulden (850 Mark) herab, und in Frankreich ist




Die Kompetenzerrveiterung der Amtsgerichte
und die Rechtsanwaltschaft

bekanntlich strebt unsre Neichsjustizverwaltung eine Erweiterung
der Zuständigkeit der Amtsgerichte an. So große Zustimmung
sich dieser Plan beim Publikum auch erworben hat, bei der
Nechtsanwaltschaft ist er auf entschiednen Widerspruch gestoßen.
Die dreizehn preußischen Anwaltskcimmern haben sich sämtlich
dagegen erklärt, und der jüngst in Berlin versammelt gewesene deutsche An¬
waltstag hat die Resolution gefaßt: „Die Erweiterung der amtsgerichtlichen
Kompetenz in Zivilprozeßsachen liegt weder im Interesse der Rechtspflege noch
des rechtsuchenden Publikums."

So schlimm ist es nun nicht. Wahr ist nur, daß diese Kompetenz¬
erweiterung für die Nechtsanwaltschaft in ihrer heutigen Ausbildung geradezu
unannehmbar erscheint.

Zunächst ist der Geldwert in ständigen Sinken begriffen; daher besteht
zwischen Streitsachen im Wert von 500 Mark und von 300 Mark kein großer
Unterschied mehr. Die einen sind ebenso Bagatellsachen, wie die andern.
Das Publikum kommt, wenn die Sachen bis zu 500 Mark den Amtsgerichten
überwiesen werden, viel rascher und billiger zu seinem Recht. Die Parteien
werden dann nicht mehr genötigt sein, zeitraubende und kostspielige Reisen
nach dem Landgerichtssitz zu unternehmen, um dort für solche kleine Sachen einen
Anwalt zu befragen, souderu sie können, wenn sie sich nicht selbst vertreten
wollen, einen Anwalt bequemer an Ort und Stelle haben. Die Ausdehnung
der Zuständigkeit der Amtsgerichte bis zu 500 Mark wird nach einer an¬
nähernden Schätzung die Landgerichte um 30 bis 40 Prozent aller Sachen
entlasten und dazu führen, daß das Platte Land den so wünschenswerten Zuzug
von Nechtsanwälten erhält. Die wachsende Bedeutung des Einzelrichteramts
liegt übrigens in unsrer Zeitrichtung begründet. Deshalb haben auch die
neuesten Zivilprozcßeutwürfe in Osterreich und in Frankreich die Zustündig-
keitsgrenze für die Einzelgerichte weit hinausgeschoben. In Österreich setzte
der Entwurf 1000 Gulden als Grenze fest. Das Abgeordnetenhaus setzte sie
mit knapper Mehrheit auf 500 Gulden (850 Mark) herab, und in Frankreich ist


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[0117] Die Kompetenzerrveiterung der Amtsgerichte und die Rechtsanwaltschaft bekanntlich strebt unsre Neichsjustizverwaltung eine Erweiterung der Zuständigkeit der Amtsgerichte an. So große Zustimmung sich dieser Plan beim Publikum auch erworben hat, bei der Nechtsanwaltschaft ist er auf entschiednen Widerspruch gestoßen. Die dreizehn preußischen Anwaltskcimmern haben sich sämtlich dagegen erklärt, und der jüngst in Berlin versammelt gewesene deutsche An¬ waltstag hat die Resolution gefaßt: „Die Erweiterung der amtsgerichtlichen Kompetenz in Zivilprozeßsachen liegt weder im Interesse der Rechtspflege noch des rechtsuchenden Publikums." So schlimm ist es nun nicht. Wahr ist nur, daß diese Kompetenz¬ erweiterung für die Nechtsanwaltschaft in ihrer heutigen Ausbildung geradezu unannehmbar erscheint. Zunächst ist der Geldwert in ständigen Sinken begriffen; daher besteht zwischen Streitsachen im Wert von 500 Mark und von 300 Mark kein großer Unterschied mehr. Die einen sind ebenso Bagatellsachen, wie die andern. Das Publikum kommt, wenn die Sachen bis zu 500 Mark den Amtsgerichten überwiesen werden, viel rascher und billiger zu seinem Recht. Die Parteien werden dann nicht mehr genötigt sein, zeitraubende und kostspielige Reisen nach dem Landgerichtssitz zu unternehmen, um dort für solche kleine Sachen einen Anwalt zu befragen, souderu sie können, wenn sie sich nicht selbst vertreten wollen, einen Anwalt bequemer an Ort und Stelle haben. Die Ausdehnung der Zuständigkeit der Amtsgerichte bis zu 500 Mark wird nach einer an¬ nähernden Schätzung die Landgerichte um 30 bis 40 Prozent aller Sachen entlasten und dazu führen, daß das Platte Land den so wünschenswerten Zuzug von Nechtsanwälten erhält. Die wachsende Bedeutung des Einzelrichteramts liegt übrigens in unsrer Zeitrichtung begründet. Deshalb haben auch die neuesten Zivilprozcßeutwürfe in Osterreich und in Frankreich die Zustündig- keitsgrenze für die Einzelgerichte weit hinausgeschoben. In Österreich setzte der Entwurf 1000 Gulden als Grenze fest. Das Abgeordnetenhaus setzte sie mit knapper Mehrheit auf 500 Gulden (850 Mark) herab, und in Frankreich ist

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/117>, abgerufen am 05.01.2025.