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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Naturalisation hat nützen sollen, denn der § 77 unterscheidet nicht zwischen In¬
ländern und Ausländern. Das Reichsgericht hat aber in einem Urteile vom 9. Oktober
1893 die Anwendung des § 77 auf einen Aale, wo die beständige Trennung von
Tisch und Bett im Auslande ausgesprochen war, abgelehnt. Ein österreichischer
Katholik, der in seiner Heimat von seiner Fran beständig von Tisch und Bett ge¬
trennt war, halte sich in Sachsen niedergelassen und uaturalisiren lassen. Er klagte
hier auf Grund der Trennung von Tisch und nett ans Scheidung. Der Fall
lag ähnlich, wie bei Etineelle; es bestand jedoch der große Unterschied, daß der
Ehemann hier einen Wohnsitz hatte und daher die hiesigen Gerichte für die Ehe¬
scheidungsklage zuständig waren. Die Klage wurde in allen Instanzen für un¬
begründet erklärt. Vielleicht habe" die '1'i'ibinmux ä'^xolä-i den zweiten Absatz des
ß 77 anders ausgelegt als das Reichsgericht in dein Urteil aus dem Jahre 1893.
Aber die Frage war doch immer eine sehr zweifelhafte, wie sich schon daraus ergiebt,
daß eben, das Reichsgericht anders entschieden hat.

Nun fragt man wieder" Wo war denn der Staatsanwalt? Lag es denn
für ihn nicht nahe, im Interesse der Aufrechterhaltung der Ehe die Entscheidung
der höhern Gerichte anzurufen? Wnrnni hat er kein Rechtsmittel eingelegt? Nach
der Entscheidung des Reichsgerichts aus dein Jahre 1893 ist anzunehmen, daß,
wenn die Sache in die dritte Instanz gelangt wäre, das Vertrauen Etincelles ans
das Altenburger Recht böse getäuscht worden wäre.

Man sieht, die Sache bietet der Rätsel gar manche. Sollte sich nicht ein
Eingeweihter finden, der die Güte hätte, hierüber eine Aufklärung zu geben? Es
ist doch auch für nus Deutsche von Interesse, das in Paris so berühmte Altenburger
Recht kennen zu lernen.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Vernunft und Unvernunft in der Sozialdemokratie.

Das Schauspiel
der Umbildung der österreichischen Parteien dnrch die Furcht vor der fünften Kurie
ist nicht uninteressant, und es lohnt sich, vou Zeit zu Zeit einen Blick darauf zu
werfen. Die Landtagswnhleu siud nach dem in Ur. 33 aufgestellten Programm
verlaufen! Fortschritt der Klerikalen und Antisemiten, Rückschritt der Liberalen,
Annäherung der Parteien an einander in einem Grade, daß in den Programmen
und in dem Geschwätz der Parteiredner kaum noch ein Unterschied zu finden ist.
Dieses Geschwätz ist teilweise reines Blech. So beteuert der "reichstreue" Gro߬
grundbesitz Steiermarks -- die liberalen Großgrundbesitzer nennen sich jetzt, um
doch auch einen schönen Namen zu haben, lieber reichstreu --, er halte "die Hoch¬
haltung des österreichischen Staatsgedankens im Ange." Es ist ja sehr nett, spottet
die Arbeiterzeitung, die Hochhnltung im Ange zu halten. Für den kommenden
Reichstag läßt sich also voraussehen, daß sich in den vier alten Kurier die Pnrtei-
nntcrschiede verwischen werden, und daß die aus ihnen hervorgehenden Abgeordneten
ein Kartell -- in Österreich nennt mans eine Koalition -- aller staatserhaltenden
gegenüber der fünften Kurie bilden werden, die teils sozialdcmokratisch, teils rabiat
antisemitisch ausfallen wird, wenn es nicht etwa den Pfarrern gelingt, in den


Naturalisation hat nützen sollen, denn der § 77 unterscheidet nicht zwischen In¬
ländern und Ausländern. Das Reichsgericht hat aber in einem Urteile vom 9. Oktober
1893 die Anwendung des § 77 auf einen Aale, wo die beständige Trennung von
Tisch und Bett im Auslande ausgesprochen war, abgelehnt. Ein österreichischer
Katholik, der in seiner Heimat von seiner Fran beständig von Tisch und Bett ge¬
trennt war, halte sich in Sachsen niedergelassen und uaturalisiren lassen. Er klagte
hier auf Grund der Trennung von Tisch und nett ans Scheidung. Der Fall
lag ähnlich, wie bei Etineelle; es bestand jedoch der große Unterschied, daß der
Ehemann hier einen Wohnsitz hatte und daher die hiesigen Gerichte für die Ehe¬
scheidungsklage zuständig waren. Die Klage wurde in allen Instanzen für un¬
begründet erklärt. Vielleicht habe» die '1'i'ibinmux ä'^xolä-i den zweiten Absatz des
ß 77 anders ausgelegt als das Reichsgericht in dein Urteil aus dem Jahre 1893.
Aber die Frage war doch immer eine sehr zweifelhafte, wie sich schon daraus ergiebt,
daß eben, das Reichsgericht anders entschieden hat.

Nun fragt man wieder" Wo war denn der Staatsanwalt? Lag es denn
für ihn nicht nahe, im Interesse der Aufrechterhaltung der Ehe die Entscheidung
der höhern Gerichte anzurufen? Wnrnni hat er kein Rechtsmittel eingelegt? Nach
der Entscheidung des Reichsgerichts aus dein Jahre 1893 ist anzunehmen, daß,
wenn die Sache in die dritte Instanz gelangt wäre, das Vertrauen Etincelles ans
das Altenburger Recht böse getäuscht worden wäre.

Man sieht, die Sache bietet der Rätsel gar manche. Sollte sich nicht ein
Eingeweihter finden, der die Güte hätte, hierüber eine Aufklärung zu geben? Es
ist doch auch für nus Deutsche von Interesse, das in Paris so berühmte Altenburger
Recht kennen zu lernen.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Vernunft und Unvernunft in der Sozialdemokratie.

Das Schauspiel
der Umbildung der österreichischen Parteien dnrch die Furcht vor der fünften Kurie
ist nicht uninteressant, und es lohnt sich, vou Zeit zu Zeit einen Blick darauf zu
werfen. Die Landtagswnhleu siud nach dem in Ur. 33 aufgestellten Programm
verlaufen! Fortschritt der Klerikalen und Antisemiten, Rückschritt der Liberalen,
Annäherung der Parteien an einander in einem Grade, daß in den Programmen
und in dem Geschwätz der Parteiredner kaum noch ein Unterschied zu finden ist.
Dieses Geschwätz ist teilweise reines Blech. So beteuert der „reichstreue" Gro߬
grundbesitz Steiermarks — die liberalen Großgrundbesitzer nennen sich jetzt, um
doch auch einen schönen Namen zu haben, lieber reichstreu —, er halte „die Hoch¬
haltung des österreichischen Staatsgedankens im Ange." Es ist ja sehr nett, spottet
die Arbeiterzeitung, die Hochhnltung im Ange zu halten. Für den kommenden
Reichstag läßt sich also voraussehen, daß sich in den vier alten Kurier die Pnrtei-
nntcrschiede verwischen werden, und daß die aus ihnen hervorgehenden Abgeordneten
ein Kartell — in Österreich nennt mans eine Koalition — aller staatserhaltenden
gegenüber der fünften Kurie bilden werden, die teils sozialdcmokratisch, teils rabiat
antisemitisch ausfallen wird, wenn es nicht etwa den Pfarrern gelingt, in den


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[0109] Naturalisation hat nützen sollen, denn der § 77 unterscheidet nicht zwischen In¬ ländern und Ausländern. Das Reichsgericht hat aber in einem Urteile vom 9. Oktober 1893 die Anwendung des § 77 auf einen Aale, wo die beständige Trennung von Tisch und Bett im Auslande ausgesprochen war, abgelehnt. Ein österreichischer Katholik, der in seiner Heimat von seiner Fran beständig von Tisch und Bett ge¬ trennt war, halte sich in Sachsen niedergelassen und uaturalisiren lassen. Er klagte hier auf Grund der Trennung von Tisch und nett ans Scheidung. Der Fall lag ähnlich, wie bei Etineelle; es bestand jedoch der große Unterschied, daß der Ehemann hier einen Wohnsitz hatte und daher die hiesigen Gerichte für die Ehe¬ scheidungsklage zuständig waren. Die Klage wurde in allen Instanzen für un¬ begründet erklärt. Vielleicht habe» die '1'i'ibinmux ä'^xolä-i den zweiten Absatz des ß 77 anders ausgelegt als das Reichsgericht in dein Urteil aus dem Jahre 1893. Aber die Frage war doch immer eine sehr zweifelhafte, wie sich schon daraus ergiebt, daß eben, das Reichsgericht anders entschieden hat. Nun fragt man wieder" Wo war denn der Staatsanwalt? Lag es denn für ihn nicht nahe, im Interesse der Aufrechterhaltung der Ehe die Entscheidung der höhern Gerichte anzurufen? Wnrnni hat er kein Rechtsmittel eingelegt? Nach der Entscheidung des Reichsgerichts aus dein Jahre 1893 ist anzunehmen, daß, wenn die Sache in die dritte Instanz gelangt wäre, das Vertrauen Etincelles ans das Altenburger Recht böse getäuscht worden wäre. Man sieht, die Sache bietet der Rätsel gar manche. Sollte sich nicht ein Eingeweihter finden, der die Güte hätte, hierüber eine Aufklärung zu geben? Es ist doch auch für nus Deutsche von Interesse, das in Paris so berühmte Altenburger Recht kennen zu lernen. Maßgebliches und Unmaßgebliches Vernunft und Unvernunft in der Sozialdemokratie. Das Schauspiel der Umbildung der österreichischen Parteien dnrch die Furcht vor der fünften Kurie ist nicht uninteressant, und es lohnt sich, vou Zeit zu Zeit einen Blick darauf zu werfen. Die Landtagswnhleu siud nach dem in Ur. 33 aufgestellten Programm verlaufen! Fortschritt der Klerikalen und Antisemiten, Rückschritt der Liberalen, Annäherung der Parteien an einander in einem Grade, daß in den Programmen und in dem Geschwätz der Parteiredner kaum noch ein Unterschied zu finden ist. Dieses Geschwätz ist teilweise reines Blech. So beteuert der „reichstreue" Gro߬ grundbesitz Steiermarks — die liberalen Großgrundbesitzer nennen sich jetzt, um doch auch einen schönen Namen zu haben, lieber reichstreu —, er halte „die Hoch¬ haltung des österreichischen Staatsgedankens im Ange." Es ist ja sehr nett, spottet die Arbeiterzeitung, die Hochhnltung im Ange zu halten. Für den kommenden Reichstag läßt sich also voraussehen, daß sich in den vier alten Kurier die Pnrtei- nntcrschiede verwischen werden, und daß die aus ihnen hervorgehenden Abgeordneten ein Kartell — in Österreich nennt mans eine Koalition — aller staatserhaltenden gegenüber der fünften Kurie bilden werden, die teils sozialdcmokratisch, teils rabiat antisemitisch ausfallen wird, wenn es nicht etwa den Pfarrern gelingt, in den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/109>, abgerufen am 05.01.2025.