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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Daniel Lhodowiecki

zu tragen, wird die Zukunft lehren; vorläufig können sich die Türken ins
Fäustchen lachen.

Der Zweck des Vorstehenden ist erfüllt, wenn hin und wieder einem Leser
die Folgen der heutigen Politik, vor allem die enge Verbindung der sozialen
und der religiösen Frage in der Türkei in eine von dem gewöhnlichen Urteil
der Tagespresse etwas abweichende Beleuchtung gerückt worden ist.




Daniel Chodowiecki

eilen einer raschen Aufklärung, deren Denken namentlich durch
die Naturwissenschaften angeregt zu werden Pflegt, bedeuten für
die Kunst gewöhnlich Zeiten eines überwiegenden Realismus,
wo nicht eines mehr oder weniger fröhlichen oder groben Na-
^ turalismus. Ein Naturalismus der deutschen Malerei läuft z. V.
im fünfzehnten Jahrhundert neben dem ersten eindringenden naturwissenschaft¬
lichen Denken her, das wir überhaupt erlebt haben, in unserm Jahrhundert siegte
der Realismus in der Kunst über die Romantik gleichzeitig mit dem Empor¬
dringen der Naturwissenschaften über die romantische Philosophie, und auch
die Aufklärungszeit des achtzehnten Jahrhunderts hat ihren Realisten, ja be¬
scheidnen Naturalisten gehabt: Daniel Chodowiecki. So konventionell uns
die Gestalten und Szenen seiner schlichten kleinen Bilder zur Minna, zum
Werther unwillkürlich anmuten, in ihrer Zeit stellten sie doch einen großen
Fortschritt zu freierer Komposition, zu unmittelbarer Wiedergabe der Natur
dar gegenüber den Rokokopüppchen und -grüppchen, wie sie in seiner Jugend
mode waren, und wie er sie selbst als junger Handwerker in Menge gemalt
hat, und gegenüber den unwahren weichlichen klassizistischen Idealgestalten vieler
seiner Zeitgenossen. Nachdem ihm einmal die Schuppen von den Augen ge¬
fallen waren, zeichnete er unablässig nach der Natur. Akte zwar zu zeichnen
-- er begann damit, als er bereits über dreißig Jahre alt war und schon seit
zehn Jahren als ein guter Maler galt -- ist ihm nur wenige Jahre möglich
gewesen.*) Dafür suchte er sich zu entschädigen und zugleich seine Fertigkeit
zu ergänzen dadurch, daß er sich daran machte, was ihm die Natur so bot,



") Das erzählt er selbst und fügt hinzu: "Und das wäre nicht genug? wird ein schon
ausgelernter Künstler fragen. -- Nein, lieber MannI Wenn du dein ganzes Leben lang nach
dem Leben zeichnest, so mußt du am Ende desselben fühlen, daß dir noch vieles zu lernen
übrig blieb, und du nicht zuviel gezeichnet hast."
Daniel Lhodowiecki

zu tragen, wird die Zukunft lehren; vorläufig können sich die Türken ins
Fäustchen lachen.

Der Zweck des Vorstehenden ist erfüllt, wenn hin und wieder einem Leser
die Folgen der heutigen Politik, vor allem die enge Verbindung der sozialen
und der religiösen Frage in der Türkei in eine von dem gewöhnlichen Urteil
der Tagespresse etwas abweichende Beleuchtung gerückt worden ist.




Daniel Chodowiecki

eilen einer raschen Aufklärung, deren Denken namentlich durch
die Naturwissenschaften angeregt zu werden Pflegt, bedeuten für
die Kunst gewöhnlich Zeiten eines überwiegenden Realismus,
wo nicht eines mehr oder weniger fröhlichen oder groben Na-
^ turalismus. Ein Naturalismus der deutschen Malerei läuft z. V.
im fünfzehnten Jahrhundert neben dem ersten eindringenden naturwissenschaft¬
lichen Denken her, das wir überhaupt erlebt haben, in unserm Jahrhundert siegte
der Realismus in der Kunst über die Romantik gleichzeitig mit dem Empor¬
dringen der Naturwissenschaften über die romantische Philosophie, und auch
die Aufklärungszeit des achtzehnten Jahrhunderts hat ihren Realisten, ja be¬
scheidnen Naturalisten gehabt: Daniel Chodowiecki. So konventionell uns
die Gestalten und Szenen seiner schlichten kleinen Bilder zur Minna, zum
Werther unwillkürlich anmuten, in ihrer Zeit stellten sie doch einen großen
Fortschritt zu freierer Komposition, zu unmittelbarer Wiedergabe der Natur
dar gegenüber den Rokokopüppchen und -grüppchen, wie sie in seiner Jugend
mode waren, und wie er sie selbst als junger Handwerker in Menge gemalt
hat, und gegenüber den unwahren weichlichen klassizistischen Idealgestalten vieler
seiner Zeitgenossen. Nachdem ihm einmal die Schuppen von den Augen ge¬
fallen waren, zeichnete er unablässig nach der Natur. Akte zwar zu zeichnen
— er begann damit, als er bereits über dreißig Jahre alt war und schon seit
zehn Jahren als ein guter Maler galt — ist ihm nur wenige Jahre möglich
gewesen.*) Dafür suchte er sich zu entschädigen und zugleich seine Fertigkeit
zu ergänzen dadurch, daß er sich daran machte, was ihm die Natur so bot,



") Das erzählt er selbst und fügt hinzu: „Und das wäre nicht genug? wird ein schon
ausgelernter Künstler fragen. — Nein, lieber MannI Wenn du dein ganzes Leben lang nach
dem Leben zeichnest, so mußt du am Ende desselben fühlen, daß dir noch vieles zu lernen
übrig blieb, und du nicht zuviel gezeichnet hast."
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[0613] Daniel Lhodowiecki zu tragen, wird die Zukunft lehren; vorläufig können sich die Türken ins Fäustchen lachen. Der Zweck des Vorstehenden ist erfüllt, wenn hin und wieder einem Leser die Folgen der heutigen Politik, vor allem die enge Verbindung der sozialen und der religiösen Frage in der Türkei in eine von dem gewöhnlichen Urteil der Tagespresse etwas abweichende Beleuchtung gerückt worden ist. Daniel Chodowiecki eilen einer raschen Aufklärung, deren Denken namentlich durch die Naturwissenschaften angeregt zu werden Pflegt, bedeuten für die Kunst gewöhnlich Zeiten eines überwiegenden Realismus, wo nicht eines mehr oder weniger fröhlichen oder groben Na- ^ turalismus. Ein Naturalismus der deutschen Malerei läuft z. V. im fünfzehnten Jahrhundert neben dem ersten eindringenden naturwissenschaft¬ lichen Denken her, das wir überhaupt erlebt haben, in unserm Jahrhundert siegte der Realismus in der Kunst über die Romantik gleichzeitig mit dem Empor¬ dringen der Naturwissenschaften über die romantische Philosophie, und auch die Aufklärungszeit des achtzehnten Jahrhunderts hat ihren Realisten, ja be¬ scheidnen Naturalisten gehabt: Daniel Chodowiecki. So konventionell uns die Gestalten und Szenen seiner schlichten kleinen Bilder zur Minna, zum Werther unwillkürlich anmuten, in ihrer Zeit stellten sie doch einen großen Fortschritt zu freierer Komposition, zu unmittelbarer Wiedergabe der Natur dar gegenüber den Rokokopüppchen und -grüppchen, wie sie in seiner Jugend mode waren, und wie er sie selbst als junger Handwerker in Menge gemalt hat, und gegenüber den unwahren weichlichen klassizistischen Idealgestalten vieler seiner Zeitgenossen. Nachdem ihm einmal die Schuppen von den Augen ge¬ fallen waren, zeichnete er unablässig nach der Natur. Akte zwar zu zeichnen — er begann damit, als er bereits über dreißig Jahre alt war und schon seit zehn Jahren als ein guter Maler galt — ist ihm nur wenige Jahre möglich gewesen.*) Dafür suchte er sich zu entschädigen und zugleich seine Fertigkeit zu ergänzen dadurch, daß er sich daran machte, was ihm die Natur so bot, ") Das erzählt er selbst und fügt hinzu: „Und das wäre nicht genug? wird ein schon ausgelernter Künstler fragen. — Nein, lieber MannI Wenn du dein ganzes Leben lang nach dem Leben zeichnest, so mußt du am Ende desselben fühlen, daß dir noch vieles zu lernen übrig blieb, und du nicht zuviel gezeichnet hast."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/613>, abgerufen am 01.09.2024.