Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.Die sozialen Zustände der Türkei und der Islam der Mekkaner zu erzielen, sodaß sein vielgepriesener Monotheismus stark mit Aus allen diesen Gründen stelle ich in Abrede, daß der Islam einer Auf¬ Ich habe mich nur deshalb so eingehend mit seinen Ansichten beschäftigt, Die sozialen Zustände der Türkei und der Islam der Mekkaner zu erzielen, sodaß sein vielgepriesener Monotheismus stark mit Aus allen diesen Gründen stelle ich in Abrede, daß der Islam einer Auf¬ Ich habe mich nur deshalb so eingehend mit seinen Ansichten beschäftigt, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0612" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/222258"/> <fw type="header" place="top"> Die sozialen Zustände der Türkei und der Islam</fw><lb/> <p xml:id="ID_2193" prev="#ID_2192"> der Mekkaner zu erzielen, sodaß sein vielgepriesener Monotheismus stark mit<lb/> Fetischismus versetzt wurde. Muhammed war neben dem Politiker ein sehr<lb/> mittelmäßiger Religionsstifter. In dieser Beziehung stand er, von anderm zu<lb/> schweigen, tief unter den großen israelitischen Propheten, wie Amos, Hosea,<lb/> Jesaia. Die geschichtlichen Ansichten, denen ein Religionsstifter huldigt, können<lb/> ja durchaus irrig sein, und doch kann sein Werk Nutzen stiften; es ist auch für<lb/> die große muhammedanische Welt weder möglich noch wünschenswert, daß sie zu<lb/> geschichtlicher Erkenntnis, zu einer klaren Anschauung über die Entstehung ihrer<lb/> Religion gelange. Ich werde aber Kassen niemals zugeben, was er behauptet:<lb/> 1,'ozuvis Hus Nodanieä g, g-oeoinplis, an ckcmvlö xoint as vus röliZieuss se<lb/> xolitihuk, äexasLL su xrauclsur, ÄWeuMs, en rWultats, tout 00 c^us 1'ssvrit,<lb/> dumain g, proäuit cis-us 1ö xassö 1s xrsssnt.</p><lb/> <p xml:id="ID_2194"> Aus allen diesen Gründen stelle ich in Abrede, daß der Islam einer Auf¬<lb/> klärung in dem guten Sinne unsrer Reformation sähig sei. Jedenfalls ist die<lb/> muhammedanische Welt noch lange nicht reif dazu, eine solche Aufklärung zu<lb/> ertragen. Die Bewegungen, die im Verlaufe von etwas mehr als hundert<lb/> Jahren im Islam hervorgetreten sind, weisen nach einer ganz andern Weiter¬<lb/> bildung hin; sie waren großenteils reaktionär und hatten eine politische Spitze.<lb/> Auch Kassen ist im Grunde, ohne es zu merken, reaktionär, trotzdem daß er<lb/> die Bildung und die durch sie erreichten wie die zu hoffenden Vorteile preist:<lb/> eine ernsthaftere Bevormundung der islamischen Welt lehnt er ab, da er weder<lb/> die Fähigkeit noch den Willen hat, sich ein Verständnis für europäische Geistes¬<lb/> arbeit, sagen wir auch für das Christentum, zu erringen.</p><lb/> <p xml:id="ID_2195" next="#ID_2196"> Ich habe mich nur deshalb so eingehend mit seinen Ansichten beschäftigt,<lb/> weil wir ihn als Typus eines modernen Muslims betrachten dürfen. Auf<lb/> religiösem Gebiet ist heute der Gegensatz des Islams gegen die christliche Welt<lb/> stärker als je. Aber auch auf politischem Gebiete zeigt sich der Ausfluß solcher<lb/> Denkweise; in den armenischen Wirren sehen wir nur ein weiteres Anzeichen<lb/> davon. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen kommt jedes Stützen der<lb/> ottomanischen Herrschaft dem Islam zu gute, den die Türkei unverhüllt auf<lb/> ihre Fahnen schreibt. Nur durch wirkliches Zusammenhalten könnten die so¬<lb/> genannten christlichen Mächte die Türkei dazu zwingen, thatsächlich ihre innern<lb/> Verhältnisse so zu ordnen, daß solche Greuel nicht wieder vorkämen. Den<lb/> Diplomaten kann es freilich gleichgiltig sein, ob irgendwo in der Ferne so<lb/> und so viel wehrlose Menschen hingeschlachtet oder dem Hungertode preis¬<lb/> gegeben werden; der Diplomat hat bloß zu verhindern, daß daraus größere<lb/> Verwicklungen zwischen den europäischen Mächten entstehen. Ob sich aber<lb/> nicht dieser Grundsatz der Nichteinmischung in die innern Angelegenheiten der<lb/> Türkei doch noch einmal rächen wird, und ob es nicht angebracht wäre, der<lb/> berechtigten Unzufriedenheit der christlichen Unterthanen nicht aus humanen<lb/> — die kann man nicht verlangen —, sondern aus politischen Gründen Rechnung</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0612]
Die sozialen Zustände der Türkei und der Islam
der Mekkaner zu erzielen, sodaß sein vielgepriesener Monotheismus stark mit
Fetischismus versetzt wurde. Muhammed war neben dem Politiker ein sehr
mittelmäßiger Religionsstifter. In dieser Beziehung stand er, von anderm zu
schweigen, tief unter den großen israelitischen Propheten, wie Amos, Hosea,
Jesaia. Die geschichtlichen Ansichten, denen ein Religionsstifter huldigt, können
ja durchaus irrig sein, und doch kann sein Werk Nutzen stiften; es ist auch für
die große muhammedanische Welt weder möglich noch wünschenswert, daß sie zu
geschichtlicher Erkenntnis, zu einer klaren Anschauung über die Entstehung ihrer
Religion gelange. Ich werde aber Kassen niemals zugeben, was er behauptet:
1,'ozuvis Hus Nodanieä g, g-oeoinplis, an ckcmvlö xoint as vus röliZieuss se
xolitihuk, äexasLL su xrauclsur, ÄWeuMs, en rWultats, tout 00 c^us 1'ssvrit,
dumain g, proäuit cis-us 1ö xassö 1s xrsssnt.
Aus allen diesen Gründen stelle ich in Abrede, daß der Islam einer Auf¬
klärung in dem guten Sinne unsrer Reformation sähig sei. Jedenfalls ist die
muhammedanische Welt noch lange nicht reif dazu, eine solche Aufklärung zu
ertragen. Die Bewegungen, die im Verlaufe von etwas mehr als hundert
Jahren im Islam hervorgetreten sind, weisen nach einer ganz andern Weiter¬
bildung hin; sie waren großenteils reaktionär und hatten eine politische Spitze.
Auch Kassen ist im Grunde, ohne es zu merken, reaktionär, trotzdem daß er
die Bildung und die durch sie erreichten wie die zu hoffenden Vorteile preist:
eine ernsthaftere Bevormundung der islamischen Welt lehnt er ab, da er weder
die Fähigkeit noch den Willen hat, sich ein Verständnis für europäische Geistes¬
arbeit, sagen wir auch für das Christentum, zu erringen.
Ich habe mich nur deshalb so eingehend mit seinen Ansichten beschäftigt,
weil wir ihn als Typus eines modernen Muslims betrachten dürfen. Auf
religiösem Gebiet ist heute der Gegensatz des Islams gegen die christliche Welt
stärker als je. Aber auch auf politischem Gebiete zeigt sich der Ausfluß solcher
Denkweise; in den armenischen Wirren sehen wir nur ein weiteres Anzeichen
davon. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen kommt jedes Stützen der
ottomanischen Herrschaft dem Islam zu gute, den die Türkei unverhüllt auf
ihre Fahnen schreibt. Nur durch wirkliches Zusammenhalten könnten die so¬
genannten christlichen Mächte die Türkei dazu zwingen, thatsächlich ihre innern
Verhältnisse so zu ordnen, daß solche Greuel nicht wieder vorkämen. Den
Diplomaten kann es freilich gleichgiltig sein, ob irgendwo in der Ferne so
und so viel wehrlose Menschen hingeschlachtet oder dem Hungertode preis¬
gegeben werden; der Diplomat hat bloß zu verhindern, daß daraus größere
Verwicklungen zwischen den europäischen Mächten entstehen. Ob sich aber
nicht dieser Grundsatz der Nichteinmischung in die innern Angelegenheiten der
Türkei doch noch einmal rächen wird, und ob es nicht angebracht wäre, der
berechtigten Unzufriedenheit der christlichen Unterthanen nicht aus humanen
— die kann man nicht verlangen —, sondern aus politischen Gründen Rechnung
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