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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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zeit aufgemacht hat. Die Völker können demnach zwar ohne Staat nicht zu
höherer Kultur und gesichertem Dasein gelangen, aber sie bleiben nur so lange
lebensfähig, als sie noch nicht vollständig verstaatlicht sind, als es noch Volks¬
massen und Lebensgebiete giebt, die der Staatsgewalt uuzugüuglich bleiben.
Auch von dieser Seite gesehen, ist ein Rest urwüchsigen, rohen Volkstums
Lebensbedingung für Staat und Volk. Durchdringt der Staat jedes Geweb-
teilcheu des Volkskörpers, so ist er der Leviathan, der das Volk auffrißt, oder
um ein richtigeres Bild zu gebrauchen, der Kalksinter, der den Volkskörper
versteinert und in eine unorganische, leblose Masse verwandelt.




Aus den Denkwürdigkeiten des luxemburgischen
Ministers Gervais
(Schluß)

le wichtigste Folge des Kriegs war sür Luxemburg die Abtretung
des Betriebs der Wilhelm-Luxemburgbahn. Wie schon erwähnt,
hatte sich die luxemburgische Regierung schon durch die Note vom
4. Oktober 1870 und dann im Januar 1871 Ernsthauseu gegen¬
über verpflichtet, die Ostbahugesellschaft auf Auflösung des Ver¬
trags zu verklagen, da sie ihn durch Beförderung eines Zuges mit Lebens-
mitteln in die belagerte Festung Diedenhofen verletzt hatte. Die von der
Regierung mit der Führung des Rechtsstreits beauftragten Anwälte hatten
erklärt, die Ansprüche der Negierung nicht vertreten zu können, da sie sie für
aussichtslos hielten. In Berlin wurde diese Nachricht mit großem Gleich¬
mut aufgenommen. Während Servais noch vergeblich bemüht war, einen
Ersatz für die Ostbahngefellschaft zu finden, erhielt er am 15. Mai durch
Föhr aus Berlin die Nachricht, daß sich an diesem Tage die französische
Regierung Deutschland gegenüber verpflichtet habe, Deutschland in die Rechte
der Ostbahugesellschaft einzusetzen. Föhr und Servais waren in gleicher Weise
überrascht über diese Wendung der Dinge. Servais meint, daß nur die Un¬
kenntnis der Tragweite der Sache (die Bahnlinien waren doch 170 Kilometer
lang) die französischen Friedeusunterhändler habe bestimmen können, sich darauf
einzulassen, über Rechte dritter und über Rechte eines souveränen Staats, der
zur Sache gar nicht gehört worden war, zu verfügen, ganz abgesehen davon,
daß die Ostbahngesellschaft nach den bestehenden Verträgen gar nicht das Recht
hatte, ohne Zustimmung der luxemburgischen Regierung ihre Rechte weiter zu


Grenzboten I 1896 "0

zeit aufgemacht hat. Die Völker können demnach zwar ohne Staat nicht zu
höherer Kultur und gesichertem Dasein gelangen, aber sie bleiben nur so lange
lebensfähig, als sie noch nicht vollständig verstaatlicht sind, als es noch Volks¬
massen und Lebensgebiete giebt, die der Staatsgewalt uuzugüuglich bleiben.
Auch von dieser Seite gesehen, ist ein Rest urwüchsigen, rohen Volkstums
Lebensbedingung für Staat und Volk. Durchdringt der Staat jedes Geweb-
teilcheu des Volkskörpers, so ist er der Leviathan, der das Volk auffrißt, oder
um ein richtigeres Bild zu gebrauchen, der Kalksinter, der den Volkskörper
versteinert und in eine unorganische, leblose Masse verwandelt.




Aus den Denkwürdigkeiten des luxemburgischen
Ministers Gervais
(Schluß)

le wichtigste Folge des Kriegs war sür Luxemburg die Abtretung
des Betriebs der Wilhelm-Luxemburgbahn. Wie schon erwähnt,
hatte sich die luxemburgische Regierung schon durch die Note vom
4. Oktober 1870 und dann im Januar 1871 Ernsthauseu gegen¬
über verpflichtet, die Ostbahugesellschaft auf Auflösung des Ver¬
trags zu verklagen, da sie ihn durch Beförderung eines Zuges mit Lebens-
mitteln in die belagerte Festung Diedenhofen verletzt hatte. Die von der
Regierung mit der Führung des Rechtsstreits beauftragten Anwälte hatten
erklärt, die Ansprüche der Negierung nicht vertreten zu können, da sie sie für
aussichtslos hielten. In Berlin wurde diese Nachricht mit großem Gleich¬
mut aufgenommen. Während Servais noch vergeblich bemüht war, einen
Ersatz für die Ostbahngefellschaft zu finden, erhielt er am 15. Mai durch
Föhr aus Berlin die Nachricht, daß sich an diesem Tage die französische
Regierung Deutschland gegenüber verpflichtet habe, Deutschland in die Rechte
der Ostbahugesellschaft einzusetzen. Föhr und Servais waren in gleicher Weise
überrascht über diese Wendung der Dinge. Servais meint, daß nur die Un¬
kenntnis der Tragweite der Sache (die Bahnlinien waren doch 170 Kilometer
lang) die französischen Friedeusunterhändler habe bestimmen können, sich darauf
einzulassen, über Rechte dritter und über Rechte eines souveränen Staats, der
zur Sache gar nicht gehört worden war, zu verfügen, ganz abgesehen davon,
daß die Ostbahngesellschaft nach den bestehenden Verträgen gar nicht das Recht
hatte, ohne Zustimmung der luxemburgischen Regierung ihre Rechte weiter zu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/241>, abgerufen am 21.11.2024.